Flucht ins Ungewisse
Atem ging nur mehr flach und gedämpft. Ich fühlte mich wie in einem verdammten Fieberwahn. Wenn ich nicht aufpasste, würde ich in den nächsten paar Minuten umkippen.
Ich blinzelte ein paarmal, um wieder klar sehen zu können. Machte es aber auch nicht gerade besser …
Eine harsche Berührung an meiner Schulter rief fast all meine Fluchtinstinkte wach. Mühsam drehte ich meinen Kopf etwas und sah Nick, der neben mir stand.
„Alles klar, Mann? Du hast schon ganz glasige Augen, siehst ziemlich krank aus.“
„Danke für die Info … Ich fühl mich auch nicht gerade frisch und munter!“
Er beugte sich etwas weiter zu mir. „Siehst du schon eine?“
Wieder warf ich einen prüfenden Blick auf die Straße vor mir. Es war bereits tiefe Nacht, nur die wenigen Straßenlaternen, wobei einige flackerten, als würden sie jeden Moment durchbrennen, zeigten mir die dunklen Gestalten hier. Sie schienen ziellos umherzuwandern. Eine junge Frau hielt ihre Tasche fest vor der Brust und hastete mit unsicheren Blicken die Straße entlang. Eine Mutter schob einen Kinderwagen vor sich hin. Doch keine von ihnen kam infrage.
Nick, Jess und ich standen etwas abseits in einer unbeleuchteten Seitengasse, damit ich die Menschen in Ruhe beobachten konnte.
Ich kaute an meiner Unterlippe und schrammte meine Zähne über das Metall meines Piercings, das machte ich immer, wenn ich nervös oder mir langweilig war – oder wenn ich ungeduldig wurde.
„Nein“, sagte ich, nachdem ich die fünf Menschen, die an uns vorbeigezogen waren, weitgehend analysiert hatte.
In meinem derzeitigen Zustand konnte ich es immer sehen. Das Schimmern einer gebrochenen Seele. Und genau auf das hatte ich es abgesehen. Auf die bruchhaften Stücke einer menschlichen Seele. Denn sie halfen mir, mich wieder normal zu fühlen – falls das überhaupt noch ging. Normal sein …
Sie waren meist hell und flackerten etwas, wie eine Flamme im Luftzug. Es wäre viel einfacher gewesen, wenn ich sie früher erkennen und vielleicht einmal etwas vorsorgen hätte können, aber das ist wie mit dem Hunger. Er meldet sich nur, wenn der Körper Nahrung braucht (oder wenn einem langweilig ist, aber das war etwas anderes). Somit trat diese Fähigkeit, gebrochene Seelen zu sehen, auch immer erst dann auf, wenn meine Seele geschwächt und ausgezehrt war. Daraus folgte, dass ich mich so gesehen von anderen Seelen ernährte. Ohne das Leid anderer konnte ich nicht mehr überleben.
Wie abartig das klingt … Und das alles nur wegen ihr !
Mein Tattoo fraß sich förmlich in meine Haut. Es brannte, als würde mir jemand ein Brandmal verpassen. Das tat es immer, wenn ich diesen Hunger hatte.
Ich krallte meine Finger in das sonnenähnliche Gebilde. Gleichzeitig vernahm ich einen Stich in meinem Kopf. Das war ein Gefühl, das man nicht weiter erklären konnte. Es glich einer Welle, die an meiner Schädeldecke brach. Und ich wusste, was mir dieser dumpfe Schmerz mitteilen wollte.
„Ich denke, da kommt eine!“, stammelte ich unverständlich. Keine Ahnung, ob die beiden mich gehört hatten.
Aber ich hatte recht.
Ein Mann mittleren Alters, der allein durch seinen Gesichtsausdruck schon ziemlich mitgenommen aussah, schlürfte an der Seitengasse vorbei. Sein Blick war starr auf den Boden gerichtet und von seinem Körper ging dieses mittlerweile schon vertraute Schimmern aus. Wie bei einem Kaleidoskop tanzte und überschlug sich das Lichtspiel auf seiner Haut und erzeugte den Eindruck, als würde man im Hochsommer auf erhitzten Asphalt schauen, als hätte er eine sichtbare Aura.
„Er?“, fragte Nick und deutete auf den Mann. Der Typ leuchtete wie eine Weihnachtsattraktion und er sah es nicht. Natürlich nicht, normale Menschen können keine Seelen sehen. Wie auch? Früher hatte ich sie auch nicht gesehen.
Ich nickte knapp. Alles in mir hätte sich am liebsten auf den Mann gestürzt. Ich verzehrte mich bereits danach. Nach dieser sonderbaren Nahrung.
Als er nur noch wenige Schritte von uns entfernt war, sprang Nick vor, packte die Arme des Mannes und zerrte ihn in die Dunkelheit der Seitengasse.
Der Mann wirkte so überrumpelt, dass er nicht einmal dazu in der Lage war, sich zu wehren. Einzig sein Gesichtsausdruck veränderte sich zu einer schreckverzerrten Maske.
Nick drückte den Mann gegen die Wand, sodass er nicht mehr entkommen konnte. Er saß wie eine wehrlose Maus in der Falle.
Seine Augen huschten hektisch von Nick zu mir, und als er mir ins Gesicht sah, riss er
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