Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
Schattierungen geworden war. Die Prostituierten waren früh auf an diesem Vormittag, nur mit BHs und spärlichen Höschen bekleidet, und als ich auf dem Sunset Boulevard Richtung Osten fuhr, traten sie aus Gassen und schattigen Toreinfahrten und winkten und pfiffen mir und anderen männlichen Autofahrern zu. Die Huren gehörten mittlerweile ebenso zu Hollywood wie die Messingsterne, die in das Pflaster der Gehsteige eingelassen waren, und ich hätte geschworen, einige von den grellbemalten Gesichtern schon vor drei Jahren gesehen zu haben. Man konnte sie grob in zwei Kategorien einteilen: Ausreißerinnen mit teigigen Gesichtern, die aus Bakersfield, Fresno und den umgebenden Farmgebieten stammten, und magere, hochbeinige, verbrauchte schwarze Mädchen aus South Central Los Angeles. Und viele von ihnen schon morgens um Viertel vor neun auf Kundenfang… Wenn das ganze Land so fleißig gewesen wäre, hätten die Japaner kaum eine Chance gegen uns gehabt.
    Das riesige und wohl auch bedeutendste Kinderkrankenhaus in Südkalifornien bildete einen gewaltigen Komplex aus bedrohlich wirkenden, im Lauf der Jahre nachgedunkelten Steinbauten und einer neueren Hochhauskonstruktion aus Beton und Glas. Ich parkte den Seville auf dem für Ärzte reservierten Platz und ging dann zum Prinzley-Pavillon, dem Gebäude, in dem überwiegend Forschungslabors des Western Pediatric untergebracht waren.
    Die Abteilung für Onkologie befand sich im fünften Stock. Die viel zu kleinen Räume der Ärzte waren U-förmig um das Großraumbüro der Sekretärinnen angeordnet. Als Abteilungsleiter stand Raoul viermal so viel Platz zur Verfügung wie den anderen Onkologen und dadurch auch so etwas wie Privatsphäre. Sein Büro befand sich am Ende des Korridors und war durch eine Doppeltür aus Glas von den übrigen Räumen getrennt. Ich ging hindurch und kam in den Empfangsbereich. Da ich dort niemanden antraf, ging ich weiter und betrat sein Büro durch eine Tür mit der Aufschrift PRIVAT.
    Er hätte Anspruch gehabt auf eine üppige Bürosuite in der Art einer Chefetage, doch er hatte sich entschieden, den ihm zustehenden Raum weitgehend seinem Labor zur Verfügung zu stellen, so daß für ihn selbst zuletzt noch ein Raum im Format dreieinhalb mal viereinhalb Meter übriggeblieben war. Und dieser Raum war so, wie ich ihn von früher kannte: der Schreibtisch zugebaut mit Stapeln von Korrespondenz, Zeitschriften und unbeantworteten Telefonnotizen, alles ordentlich und präzise übereinandergelegt. Der Platz in den Regalen, die vom Boden bis zur Decke gingen, reichte nicht aus für die Bücher, und das, was man dort nicht mehr unterbringen konnte, stand in kleinen bis mittleren Türmen auf dem Boden. Ein Regalabteil hinter dem Schreibtisch war vollgestellt mit Fläschchen, die verschiedene Magenmittel enthielten. Rechtwinklig zum Schreibtisch verbargen ausgebleichte, beigefarbene Vorhänge das einzige Fenster des Büros und die Aussicht auf die dahinterliegenden Hügel.
    Mir war diese Aussicht sehr vertraut. Immerhin hatte ich einen nicht unbeträchtlichen Teil meiner Zeit beim Western Pediatric damit vergeudet, daß ich hinausschaute auf die allmählich verfallenden Buchstaben des HOLLYWOOD-Signets und auf Raoul wartete, mit dem ich hier verabredet war, was er wieder einmal vergessen hatte, oder daß ich in seiner Anwesenheit Däumchen drehte, bis er mit einem wichtigen Ferngespräch fertig war.
    Ich blickte mich nach Anzeichen menschlicher Gegenwart um und entdeckte eine Plastiktasse, die halb mit kaltem Kaffee gefüllt war , und ein cremefarbenes Seidenjackett, das jemand ordentlich über die Lehne des Schreibtischsessels drapiert hatte. Danach klopfte ich an die Tür des angrenzenden Labors, ohne Erfolg, und stellte fest, daß die Tür abgesperrt war. Ich zog die Vorhänge auf, wartete eine Weile, ließ Raoul dann über den Piepser ausrufen, ohne daß er sich meldete. Auf meiner Armbanduhr war es zehn nach neun. Altbekannte Gefühle von Ungeduld und Ärger tauchten auf und verschafften sich zunehmend Platz.
    Noch fünfzehn Minuten, sagte ich mir, dann gehe ich. Genug ist genug.
    Neunzig Sekunden vor dem Termin platzte er herein.
    »Alex, Alex!« Er schüttelte mir heftig die Hand. »Danke, daß du gekommen bist.«
    Er war gealtert. Sein Bauch hatte sich deutlich vergrößert zu einem eiförmigen Gebilde, das die Knöpfe seines Hemds spannte. Die letzten Haarsträhnen auf seinem Schädel waren verschwunden, und die dunklen Locken an den Seiten umgaben

Weitere Kostenlose Bücher