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Flüchtig!

Flüchtig!

Titel: Flüchtig! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Kellerman
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jetzt eine hohe, leicht verbeulte und glänzende Glatze. Der dichte Schnurrbart, einst schwarz wie Ebenholz, war zu einem Dickicht aus grauen, schwarzen und weißen Haaren geworden. Nur die Kaffeebohnen-Augen, wie immer lebhaft und beweglich, schienen alterslos zu sein und wiesen auf das Feuer hin, das dahinter brannte. Er war ein kleiner Mann mit einer Neigung zum Dickwerden, und seine Garderobe war nicht dazu angetan, das zu verbergen. An diesem Morgen trug er ein blaßrosa Hemd, eine schwarze Krawatte, bedruckt mit einem rosafarbenen Muster, und eine cremefarbene Hose, die zu dem Jackett über der Sessellehne paßte. Seine Schuhe waren spiegelblank poliert, spitze, beigefarbene Slipper, mit perforiertem Leder verziert. Sein langer weißer Kittel war gestärkt, aber eine Nummer zu groß. Um den Hals hing ihm ein Stethoskop, und in den Taschen des Kittels steckten Kugelschreiber und Dokumente, die sie nach unten zogen.
    »Guten Morgen, Raoul.«
    »Hast du schon gefrühstückt?« Er drehte mir den Rücken zu und fuhr rasch mit den Fingern über die Stapel auf seinem Schreibtisch wie ein Blinder, der die Blindenschrift ungewöhnlich schnell zu lesen versteht.
    »Nein. Du hast gesagt, du würdest…«
    »Wie wär’s, wenn wir in den Speiseraum für Ärzte gingen und du dich vom Haus dazu einladen läßt?«
    »Das wäre nett.« Ich seufzte.
    »Großartig.« Er klopfte auf seine Taschen, suchte darin und murmelte ein paar obszöne Worte auf Spanisch. »Laß mich nur rasch zwei Anrufe hinter mich bringen, dann…«
    »Raoul, ich bin etwas in Zeitdruck. Es wäre mir lieb, wenn wir jetzt gleich gehen könnten.«
    Er drehte sich um und schaute mich überrascht an.
    »Was? Ach so, natürlich. Also gleich. Klar.«
    Ein letzter Blick auf den Schreibtisch, ein Griff nach der neuesten Ausgabe von Blood, und wir waren draußen.
    Obwohl seine Beine mit Sicherheit mehr als zehn Zentimeter kürzer waren als die meinen, mußte ich beinahe laufen, um mit ihm Schritt zu halten, als wir über die verglaste Brücke gingen, die den Prinzley-Pavillon mit dem alten Hauptgebäude verband. Und da er beim Laufen auch noch pausenlos redete, war es wichtig, daß ich mich nicht abhängen ließ.
    »Der Name der Familie lautet Swope.« Er buchstabierte ihn. »Der Junge heißt Heywood - man ruft ihn Woody. Fünf Jahre alt. Ein Non-Hodgkin-Lymphom, lokalisiert. Ursprünglich im oberen Abdomen, mit einem regional lokalisierbaren Knoten. Das Angiogramm der Metastatik wundervoll wie im Lehrbuch, ganz sauber. Die Histologie zeigt keine Lymphoblasten, ein glücklicher Umstand, weil das Behandlungsschema für Nonlymphoblastiker gesichert ist.«
    Wir erreichten den Lift. Raoul schien außer Atem zu sein, zupfte an seinem Hemdkragen und lockerte die Krawatte. Die Lifttüren glitten auf, und wir fuhren schweigend hinunter ins Parterre. Schweigend, aber keineswegs ruhig, denn Raoul konnte nicht stillstehen, trat von einem Fuß auf den anderen, trommelte mit den Fingern gegen die Wand der Liftkabine, spielte mit Strähnen seines Schnurrbarts und mit einem Kugelschreiber und drückte dabei die Mine wiederholt heraus und hinein.
    Der Korridor im Parterre war ein Tunnel der Geräusche, verstopft von Ärzten, Schwestern, Technikern und Patienten. Raoul redete weiter, bis ich ihm auf die Schulter tippte und ihm zubrüllte, daß ich kein Wort verstehen könne. Er nickte kurz und ging dann, sobald sich eine Lücke bot, im Eilschritt weiter. Wir rannten im Zickzack durch die Cafeteria und erreichten schließlich die nur schwach erhellte Eleganz des Speisesaals für Ärzte.
    Eine Gruppe von Chirurgen saß an einem runden Tisch, essend und rauchend, in grünen Kitteln, den Kopfschutz wie Lätzchen vor der Brust hängend; ansonsten war der Raum leer.
    Raoul ging mit mir zu einem Ecktisch, winkte der Bedienung und breitete sich eine Leinenserviette über die Knie. Dann nahm er ein Päckchen Süßstoff und drehte es zur Seite, daß sich das Pulver leise raschelnd bewegte wie Sand in einer Sanduhr. Er wiederholte die Geste ein halbes dutzendmal und begann wieder zu reden, hielt nur inne, als die Bedienung kam, um unsere Bestellung aufzunehmen.
    »Erinnerst du dich an das COMP-Protokoll, Alex?«
    »Nur vage. Cyklophosphamid - äh - Methotrexat und Prednison, ja? Ich weiß nicht mehr, was das O bedeutet.«
    »Sehr gut. Oncovin. Wir haben es inzwischen für Non-Hodgkin in einer verbesserten Form zur Verfügung. Es wirkt Wunder, wenn wir es mit intrathekal verabreichtem

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