Flüchtig!
mexikanischen Grenze.«
»Ich kenne die Gegend. Ackerland und Obsthaine.«
»Ja, das stimmt meines Wissens. Aber, wichtiger, es ist nicht weit von der Grenze und damit von Laetrile entfernt. Der Vater ist eine Art Farmer oder Pflanzer. Ein derber, laut polternder Typ, stets darauf aus, andere zu beeindrucken. Ich glaube, er hat sich einmal nebenher mit wissenschaftlichen Dingen befaßt und wirft mit biologischen Begriffen nur so um sich. Ein großer, untersetzter Kerl Anfang Fünfzig.«
»Ziemlich alt für einen fünfjährigen Sohn.«
»Ja. Die Mutter ist Ende Vierzig - man fragt sich, ob der Junge nicht eine Art Unfall gewesen ist. Vielleicht ist es das Schuldgefühl, das sie verrückt macht. Du weißt schon - Vorwürfe wegen der Krebskrankheit ihres Sohnes und so weiter.«
»Das wäre nicht ungewöhnlich«, sagte ich. Es gab wenige Alpträume, die sich vergleichen ließen mit der schrecklichen Entdeckung, daß das eigene Kind Krebs hat. Und einen wesentlichen Teil dieses Alptraums bestimmte das Schuldgefühl, das sich die Eltern aufluden, die Suche nach der Antwort, die es nicht geben konnte: Warum ausgerechnet wir? Es war kein rationaler, kein vernunftbezogener Prozeß. Aber er lief selbst bei Ärzten, Biochemikern und anderen Leuten, die es besser wissen sollten, stets in gleicher Weise ab. Man suchte nach dem, was man falsch gemacht oder unterlassen haben könnte. Die meisten Eltern kamen mit der Zeit darüber hinweg. Diejenigen, denen das nicht gelang, trugen schwere Schäden davon, wurden zu geistigen oder sogar körperlichen Krüppeln…
»In diesem Fall gibt es dafür sicherlich eine gewisse Grundlage«, hypothetisierte Raoul. »Überalterte Eierstöcke und so weiter… Na schön, genug der Mutmaßungen, machen wir weiter. Wo war ich - äh, ja, Mrs. Swope. Sie heißt mit Vornamen Emma. Eine unauffällige graue Maus. Und geradezu unterwürfig. Vater ist der Boß. Ein zweites Kind, ein Mädchen, um die neunzehn, zwanzig Jahre alt.«
»Seit wann ist die Diagnose des Jungen klar?«
»Offiziell erst seit ein paar Tagen. Ein praktischer Arzt hat bei einer Untersuchung die Verhärtung im Abdomen bemerkt. Der Junge hat seit ein, zwei Wochen Schmerzen und in den letzten fünf Tagen Fieber. Der Arzt hatte einen gewissen Verdacht - nicht schlecht für einen Landarzt -, hielt nicht viel von den dortigen Kliniken und schickte ihn hierher. Wir mußten erst einmal umfangreiche Untersuchungen anstellen: Blut, Urin, Knochenmark von zwei Proben, Immundiagnosen - alles, was das Non-Hodgkin-Protokoll vorschreibt. Erst vor zwei Tagen haben wir den Tumor einwandfrei isoliert. Eine lokalisierbare Erkrankung, keine Metastasen.
Ich habe mit den Eltern ein diagnostisches Gespräch geführt, sagte ihnen, daß die Prognose gut sei, weil der Tumor nicht gestreut hatte. Sie füllten die Fragebogen mit ihrer Einverständniserklärung aus, und wir waren bereit, mit der Behandlung zu beginnen. Der Junge hat in letzter Zeit mehrere Infektionen durchgemacht, und in seinem Blut schwammen Pneumozysten, also haben wir ihn in eine unserer Strömungskammern gelegt. Dort wollten wir ihn lassen, bis die erste Runde der Chemotherapie vorbei war, dann überprüfen, wie das Immunsystem funktionierte. Es schien alles nach Plan zu laufen, da ruft mich Augie Valcroix an, mein Forschungsstipendiat in der klinischen Abteilung - zu ihm komme ich gleich noch - und teilt mir mit, daß die Eltern kalte Füße bekommen haben.«
»Aber als du zuerst mit ihnen gesprochen hast, gab es keine Anzeichen für ein derartiges Problem?«
»Eigentlich nicht, Alex. Der Vater ist derjenige, der für die ganze Familie spricht. Sie hat nur dagesessen und geheult, während ich mich bemüht habe, sie zu trösten und zu beruhigen. Er hat ein paar heikle Fragen gestellt - ich sagte ja, er hat versucht, uns zu beeindrucken -, aber es war alles ganz freundlich. Sie kamen mir wie relativ intelligente Menschen, nicht wie Spinner vor.«
Er schüttelte frustriert den Kopf.
»Nach dem Anruf von Valcroix bin ich hinübergegangen und habe mit ihnen gesprochen - in der Annahme, daß es eine momentane Besorgnis sei, du weißt schon, wenn Eltern hören, worin die Behandlung besteht, bekommen sie manchmal den Eindruck, daß wir ihr Kind quälen und so weiter. Dann suchen sie nach einfachen Dingen, die man begreifen kann wie Aprikosenkerne. Aber wenn sich der Doktor dann die Zeit nimmt und ihnen den Wert einer Chemotherapie erklärt, kehren Sie meistens zur Vernunft zurück. Leider
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