Flügel aus Asche
verzerrte Miene eines Verzweifelten.
Ein kleiner Junge zupfte Charral am Ärmel und flüsterte ihm etwas zu.
Charral schnippte mit den Fingern. »Das ist ein ausgezeichneter Einfall, Nejad! Die Krähe soll den Zauber zu spüren bekommen, den sie ruiniert hat. Damit fangen wir an. Schaut zu und geht auf Abstand.«
Charral hielt die Schriftrolle mit dem Flügel lose in beiden Händen, leicht und elegant wie ein Musiker sein Instrument. Mit lauter Stimme rezitierte er die ersten Worte des Zaubers, eine fremde, unverständliche Sprache voller Zischlaute und Nasale. Ein Funke glomm auf dem Papier auf, fraß sich in die feinen Schriftzüge, die nicht von Tinte besudelt waren, und zeichnete sie in rötlichem Feuer nach – dann griff er auf das Bild des Flügels über, und plötzlich löste sich die gesamte Schriftrolle in einer tiefroten Flamme auf, die aus Charrals Fingern emporschoss und ihn in einen Feuermantel hüllte. Obwohl er mehrere Schritte entfernt stand, spürte Adeen die Hitze, die davon ausging, und presste sich gegen die Wand, halb erstarrt vor Schreck. Auch die Schüler wichen entsetzt zurück.
Charrals Schrei wurde zu einem qualvollen Gurgeln. Er warf sich zu Boden und rollte sich über das feuchte Gras, um die Flammen zu ersticken. Nur die Magierin, die Adeen hergebracht hatte, war geistesgegenwärtig genug, um einen Eimer Wasser zu holen und über Charral auszuschütten. Zischend erlosch das Feuer. Die Schüler drängten sich um ihren Lehrmeister, um ihm aufzuhelfen. Charrals elegante Robe war voller Brandlöcher, sein Haar aschegeschwärzt und seine Haut gerötet, aber davon abgesehen schien er nicht schwer verletzt zu sein. Mit einer fast hilflosen Geste begann er sich den Ruß abzuklopfen. Auf den meisten Gesichtern zeichnete sich der Schreck deutlich ab, nur vereinzelt war unterdrücktes Gelächter zu hören.
Adeen war nicht nach Lachen zumute. Der Blick aus Charrals eisfarbenen Augen richtete sich auf ihn und versprach, dass er für diese Demütigung büßen würde.
»Gut«, sagte Charral laut, »wir alle hatten unseren Spaß.« Die Kälte in seiner Stimme ließ das Gelächter auf der Stelle verstummen. »Da seht ihr, was ein fehlerhafter Zauber bewirkt. Diese Krähe …«
»Meister Charral?«
Im Hoftor stand ein Mann in der Kleidung eines Bediensteten der Akademie. Er räusperte sich und blickte dezent zu Boden, als er Charrals Zustand bemerkte. »Talanna ist soeben eingetroffen und lässt um ein Gespräch mit Euch bitten.«
»Ich komme sofort. Der Unterricht ist vorerst beendet.« Charral bedachte Adeen mit einem letzten drohenden Blick und verließ dann mit raschen Schritten den Hof. Als er fort war, kam von neuem Gelächter auf. Die Schüler bildeten Gruppen und tuschelten miteinander. Plötzlich achtete niemand mehr auf Adeen.
Er konnte sein Glück kaum fassen.
Das Leben als Krähe hatte ihn gelehrt, sich unauffällig zu bewegen. Seine Robe hatte dieselbe dunkelgraue Farbe wie die Mauersteine, und hier war ihm seine Hautfarbe ausnahmsweise nützlich. Adeen huschte an der Wand entlang zum Tor, das aus dem Hof hinausführte. Noch war die Sache nicht überstanden. Früher oder später würde er wieder auf Charral treffen, und dann würde er für jeden Aschefleck, für jede Brandwunde bezahlen. Aber vorerst …
Wahrscheinlich hatte er sogar Glück gehabt, dass Charral das Bild des Flügels vernichtet hatte. Jetzt, da der Beweis für sein Vergehen fehlte, würde ihn wohl zumindest dafür niemand mehr zur Rechenschaft ziehen.
Sein Blick fiel auf die dornige Hecke, die den Innenhof einschloss. So spät im Jahr war sie bereits kahl und hing voller rosafarbener Beeren. Jetzt schimmerte etwas Weißes daran. Zwei der Papierbögen, die Charral fortgeworfen hatte, waren bis hierher geweht worden und hatten sich in den Dornen verfangen.
Ohne recht zu wissen, was er tat, pflückte Adeen sie aus der Hecke und schob sie in seinen Ärmel.
Papier.
Eine Heimat für die Bilder, die in seinem Kopf waren und hinausdrängten. So wie der Flügel, den er vorhin gezeichnet hatte. Was für eine Vorstellung, etwas so Kostbares zu besitzen! Und wer würde diese fleckigen Bögen schon vermissen? Dies war eindeutig sein Glückstag.
Mit einem letzten erleichterten Blick auf die Attrappe hastete Adeen vom Hof.
Über der Stadt wölbte sich ein blauroter Abendhimmel, kalt und klar und ohne Wolken. Vereinzelt kreisten Vögel um die Türme, schwarze Silhouetten, die gleich darauf ihre Flugrichtung änderten, über
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