Fluegel der Dunkelheit
dort,
kannte Liana nur zu gut. Ihre Begabung zeigte wieder einmal, mit dem
Spott ihrer meist älteren Konkurrenten zu leben. Das hatte sie
bereits in der Grundschule lernen müssen. Wie viele Hochbegabte mit
phänomenalen intellektuellen Fähigkeiten fiel es ihr schwer, sich
in den Kummer und Ängste anderer Menschen hineinzuversetzen. Die
Verfassung des Ehepaars Sperling machte es ihr nicht leichter. Die
beiden saßen auf dem kleinen Ledersofa im Flur, die Hände
ineinander verkrampft, um sich herum ein halbes Dutzend leerer
Kaffeebecher. Durch die Schwester angekündigt, schoss Frau Sperling
erwartungsvoll in die Höhe, als Liana auf sie zu kam und
Blickkontakt zu ihr aufnahm.
»Frau Majewski? Wie
geht es Hannah?«
»Ihr Zustand ist
jetzt stabil. Sie müssen sich noch einen Moment gedulden, bis sie zu
ihrer Tochter können.« Liana strich sich eine Strähne aus dem
Gesicht und klemmte sie sich hinter das Ohr. Herr Sperling stand
ebenfalls auf. Er sah sehr blass aus.
»Wird sie wieder
gesund? Wird sie bleibende Schäden davontragen?« Seine Hände
zitterten auffallend.
»Zunächst können
wir nur abwarten. Eine Prognose kann zu diesem Zeitpunkt unmöglich
gestellt werden.«
»Wie konnten Sie
eine solche Blutung nur übersehen? Das hätten Sie doch gleich
erkennen, vor allem behandeln müssen.«
Liana
setzte sich mit den beiden auf das Sofa, nicht dass Herr Sperling am
Ende noch umfiel. »Ich werde Ihnen das erklären. Bei der Computer
Tomographie gestern Abend war das Epidurale Hämatom nicht auffällig.
Eine
OP
-
Indikation
war nicht gegeben.«
Liana
gab die medizinischen Fakten an die Eltern weiter.
Herr Sperling wirkte
eher verwirrt, als aufgeklärt. Er nickte, »Verstehe.«
So ganz sicher war
sich Liana nicht, ob ihre Aufgabe damit beendet war. »Nachher wird
sich der Professor mit Ihnen zusammensetzen. Er wird Ihnen den
Vorfall sowie die Operation noch mal veranschaulichen.« Sie sah die
Eheleute abwechselt an. »Wenn Hannah zu sich kommt und ich sie
untersucht habe, kann ich Ihnen vielleicht schon mehr sagen.«
Frau Sperling lehnte
ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes und begann bitter zu weinen.
Genau vor dieser Situation hatte sich Liana gefürchtet. Tröstend
legte sie Ihre Hand auf den Oberschenkel von Frau Sperling.
»Ich werde mal
nachsehen, wann sie zu ihrer Tochter können.« Liana stand auf. »Ich
bin gleich zurück.«
Im Laufe des Morgens
untersuchte Liana ihre Patientin. Ihre allgemeinen Reaktionen, vor
allem aber die Pupillenreflexe, waren unauffällig. Das sprach für
den Erfolg des Eingriffs. Hannah war ansprechbar, was für ihre
Eltern zur enormen Erleichterung beitrug. Überhaupt schien das
Mädchen die Operation gut wegzustecken.
Liana hüpfte vor
Freude die Treppe herunter, als sie am frühen Vormittag die Klinik
verließ. Ihre erste, eigenständig durchgeführte Hirnoperation
hatte sie gemeistert. Nun wussten alle, was in ihr steckt, vor allem,
dass sie selbst unter Stress absolut souverän handeln konnte. Das
sollten die anderen ihr erst mal nachmachen. Ihr war bewusst, dass
die meisten Assistenzärzte ihres Studienganges von solchen
Eingriffen noch weit entfernt waren und sie dieser Tag ihrer
Facharztprüfung näher brachte, als sie sich bisher erträumt hatte.
Zu Hause war Liana
nach feiern zumute, obwohl sie eigentlich hundemüde war. Jetzt
brauchte sie erst einmal einen Tee. Sie kochte sich eine Kanne
Gewürztee, den trank sie besonders gern. Sie wollte sich gerade auf
dem Sofa ausstrecken, als es klingelte.
Guido, ihr Nachbar,
kam mit einem Kuchen herein. »Hallo Liana! Man, Siehst du beschissen aus.«
»Reizende
Begrüßung. Dankeschön. Ich hatte Nachtdienst, dazu eine Not-OP.«
Liana musste ihren Kopf in den Nacken nehmen, um ihm ins Gesicht zu
schauen. Ja, das war Guido: offen, ehrlich, und geradeaus. All das
schätze sie an ihm.
»Du schläfst zu
wenig und arbeitest zu viel.« Guido machte es sich auf dem Sofa
bequem. »Meine Oma kam heute mit dem Kuchen vorbei. Ich fand ihre
Idee, ihn mit dir zu teilen, gar nicht so verkehrt.«
»Oh danke
Rotkäppchen.« Sie lächelte müde. Wenn das kein gelungener
Abschluss zu diesem erfolgreichen Arbeitstag war. Guido legte eine
Papiertüte auf den Tisch.
»Oh! Für mich?«,
und sie verfluchte sich innerlich für diese abgedroschene Floskel.
Schon ewig hatte sie kein Geschenk mehr bekommen. Sie holte einen
runden Rahmen aus hellem Weidenholz hervor, über das ein
tellergroßes Netz geknüpft war. Daran baumelten
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