0042 - Der Totenbeschwörer
Vom Friedhof aus war das Licht nur als winziger, verwaschener Fleck zu erkennen. Er schien in der Luft zu schweben, war mal fort und kam dann wieder, je nachdem, wie die Nebelschwaden vom Wind durcheinandergetrieben wurden.
Es war eine kalte Nacht. Die Temperaturen lagen weit unter dem Gefrierpunkt. Die obere Schicht der Friedhofserde war knochenhart gefroren.
Das junge Mädchen, das hinter dem erleuchteten Fenster stand, schaute in die Nacht.
Jill Hanson war nervös.
Die Unruhe hatte ihren gesamten Körper erfaßt. Jill konnte nicht mehr still im Bett liegen bleiben. Immer wieder stand sie auf, trat ans Fenster und schaute zu dem Friedhof hinüber, der eine seltsame Faszination auf sie ausübte.
Aber war es überhaupt der Totenanker, der dieses Gefühl bei ihr hervorrief? Oder war es Jills Großvater? Seit drei Wochen lag er dort unter der kalten Erde.
Und genau vor drei Wochen hatte es begonnen.
Eines Nachts erwachte Jill Hanson schweißgebadet. Ein unerklärlicher Drang lockte sie zum Fenster, und sie glaubte, Stimmen zu hören. Leise, fordernde Stimmen, die sie zum Friedhof hinzogen.
»Komm doch, komm«, hieß es immer wieder.
Jill konnte sich das nicht erklären. Sie glaubte an eine Einbildung, doch die Stimmen blieben.
Das Mädchen nahm Tabletten. Jetzt erst konnte sie wieder schlafen. Doch die Stimmen kamen wieder. Intensiver und fordernder. Sie lockten und flehten, füllten Jills Gehirn aus und nahmen ihr die Kraft, sich dagegen zu wehren.
Die Angst wurde stärker. Jill empfand einen regelrechten Horror vor der jeweils nächsten Nacht, aber so paradox es sich anhörte, gleichzeitig wartete sie darauf, die Stimmen zu hören.
Wie jetzt!
Noch nie zuvor waren sie so laut gewesen. Sie brausten in ihrem Kopf, Jill gelang es nicht, sich dagegen zu wehren. Und sie wollte auch nicht mehr. Sie wußte, daß sie in dieser finsteren Nacht dem Drängen nachgeben würde.
»Ja«, flüsterte sie. »Ich komme. Ich muß es einfach tun. Wartet auch mich, bald bin ich bei euch.«
Die Stimmen verstummten. Sie hatten die Nachricht gehört und warteten auf das Mädchen.
Jill Hanson drehte sich um, ging zum Kleiderschrank und öffnete die Tür.
Auf der Innenseite befand sich ein langer Spiegel. Jill sah sich selbst darin und erschrak.
Was war aus ihr geworden?
In den letzten drei Wochen hatte sie mindestens zehn Pfund an Gewicht verloren. Der Körper der Fünfundzwanzigjährigen, sonst fraulich gerundet, bestand nur noch aus Haut und Knochen. Eingefallen war auch das Gesicht. Falten zeichneten die Haut. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Die Ringe befanden sich wie dunkle, eingegrabene Halbmonde darunter. Die Lippen waren schmäler als früher. Aus der einst so blühenden Schönheit war eine häßliche Frau geworden.
Ihre Kollegen, Eltern und Geschwister hatten sie öfters auf ihr Aussehen hin angesprochen.
Jill Hanson hatte immer eine Ausrede gefunden. Liebeskummer, seelische und berufliche Krise – nur die Wahrheit hatte sie nie eingestanden. Sie hatte sehr an ihren toten Großvater gehangen. Nächtelang wachte sie an seinem Sterbebett, und die Worte – es waren seine letzten – klangen ihr noch jetzt in den Ohren.
»Ihr werdet mir folgen«, hatte er mit rauher Stimme geflüstert. »Wartet es nur ab… bald kommt auch ihr an die Reihe. Der Friedhof lockt… die Gräber… sie werden auch für euch die Ruhestätten sein.«
Noch jetzt fühlte Jill den Schauer, der ihr bei diesen Worten über den Rücken gerieselt war.
Sie hatte die Sätze damals nicht ernst genommen, doch nun…
Ihre Gedanken wanderten. Sie dachte an die Eltern und Geschwister, die in ihren Betten lagen und schliefen und nichts davon ahnten, was bald geschehen würde.
Jill schaute auf ihre Uhr.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht.
Sie mußte sich beeilen, wenn sie pünktlich sein wollte. Denn Mitternacht war die Zeit der Toten. Dann trat die Tageswende ein, wurden die Geister der Verstorbenen wieder aktiv, so wie es beim alten Hanson war.
Jill griff in den Schrank hinein und zog ihren Wintermantel hervor. Er war von innen mit Pelz gefüttert. Jill hatte lange gespart, um sich diesen Mantel leisten zu können.
Sie streifte ihn über das lange wollene Nachthemd. Es schaute unter dem Mantel hervor, aber das störte Jill Hanson nicht. Sie ging ja nicht zu einer Modenschau.
Jill Hanson drückte die Schranktür wieder zu und lief zum Fenster.
»Ich komme«, raunte sie. »Jetzt…«
Das junge Mädchen verließ das Zimmer. Sie schlief im
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