Fluegelschlag
allen Umständen vermieden werden musste, denn die wenigsten von ihnen überstanden eine reale Begegnung mit den himmlischen Geschöpfen schadlos.
Merkwürdigerweise gingen die Vigilie als ganz normale Menschen durch, sobald sie ihre Blöße das erste Mal nach ihrer Ankunft bedeckt hatten. Selbst die meisten Dämonen konnten danach keinen Unterschied mehr erkennen, doch bis dahin waren die Neuankömmlinge jedem Angriff schutzlos ausgeliefert. Und die Diener Luzifers hatten eine ausgezeichnete Nase dafür, wo es etwas für sie zu holen gab.
Als Arian Gabriel einmal gefragt hatte, weshalb sie in den ersten Stunden nach ihrer Ankunft praktisch schutzlos und ohne ihre Kräfte waren, hatte dieser behauptet, es hätte etwas mit der biblischen Schöpfungsgeschichte zu tun. Arian schob den Gedanken an seinen ehemaligen Partner schnell beiseite. Er hielt dessen Erklärung ohnehin für unwahrscheinlich. Eher wollte er glauben, dass es sich wieder einmal um einen dieser üblen Scherze handelte, von denen seine Auftraggeber mehr als genug auf Lager zu haben schienen. Normalerweise fand er keinen davon besonders spaßig. Woran es auch lag, er verspürte wenig Lust, sich von einem Dämon töten oder, was noch schlimmer gewesen wäre, versklaven zu lassen. Deshalb hatte er bei seinen Einsätzen auf der Erde schnell eine Strategie entwickelt, um zu zeitgemäßer Kleidung zu kommen, mit der er auch unter Menschen nicht auffiel. Strategie war vielleicht ein zu großes
Wort, gestand er sich ein. Ebenso wie Gabriel lieh er einfach alles Notwendige von irgendeiner Wäscheleine. Einen Kilt hatte er allerdings noch nie getragen, doch er mochte dieses Kleidungsstück. Es war vielleicht ein bisschen kurz - in früheren Zeiten hatte ein Mann meist dezentere Kleider getragen -, aber die Freiheit zwischen den Beinen fühlte sich angenehm an. Etwas erschrocken bemerkte er, dass eben diese Freiheit auch verräterisch sein konnte. Noch nie zuvor hatte es ihn nach einem Menschenweib gelüstet.
»Fertig.«
»Was ist das?« Irritiert sah er auf seine komplett bandagierte Schulter.
»Nichts, was nicht jeder andere Arzt auch getan hätte. Ich habe einem Verletzten geholfen«, entgegnete sie indigniert. Dankbarkeit hörte sich anders an. Sie mochte ja nur Tierärztin sein, aber eine solche Wunde konnten alle Mediziner versorgen, ja, jeder von ihnen war in Notfällen sogar dazu verpflichtet. Der Mann im Sessel ihres Großvaters wirkte jetzt weniger hilflos, und sie überlegte, ob sie ihn ins nächste Hospital schicken sollte. Wahrscheinlich wäre das sogar besser gewesen, aber sie zweifelte daran, dass er freiwillig dorthin ginge. Er sah sie prüfend an, und diese halbbekleidete Männlichkeit machte sie plötzlich nervös. Juna spürte, wie sich ihr Gesicht erwärmte.
»Für eine Ärztin bis du sehr jung.«
Ach das ist es! Sie wusste, was er sah. Früher hatten die Kinder sie Pippi Langstrumpf genannt, weil sie immer ein wenig unordentlich aussah. So sehr sie sich auch bemühte, stets hatte sie ein Loch im Strumpf gehabt oder Gartenerde unter den Fingernägeln. Wie oft hatte Großmutter ihr ein
Blatt aus dem Haar gezogen und dabei lachend gedroht, die kaum zu bändigende Pracht einfach abzuschneiden. Gegen die deutliche Lücke zwischen ihren oberen Schneidezähnen half keine Zahnspange, aber immerhin versöhnte die Fähigkeit, mit ihrer Hilfe einen unglaublich schrillen Pfiff ausstoßen zu können. Leider war es ein selten gefragtes Talent, seit sie erwachsen geworden war. Sie ärgerte sich über den ungläubigen Tonfall seiner Bemerkung. »Tierärztin, wenn du es genau wissen willst!« Ihre Antwort klang eine Spur zu schnippisch.
»Das dürfte das Richtige für mich sein.« Er schien durch sie hindurchzusehen, und es wirkte, als sei er in Gedanken sehr weit fort.
Wer konnte es ihm verdenken? Der Mann musste eine unglaubliche Selbstbeherrschung besitzen, denn während der Behandlung hatte er keinen einzigen Laut von sich gegeben. Nur die kleine Falte, die sich auch jetzt zwischen seinen Augenbrauen gebildet hatte, verriet ihr, dass er versuchte, sich die Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Sie dachte schon, er würde nichts mehr sagen, da glättete sich seine Stirn plötzlich. »Wie heißt du?«
Fast hätte sie ihn nicht verstanden, so leise war seine Stimme. Nach kurzem Zögern nannte sie ihm ihren Namen.
»Juna …« Aus seinem Mund klang es wie ein Seufzer. Dann schloss er die Augen, sein Atem wurde ruhiger. Gerade wollte sie sich
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