Fluegelschlag
Cordhosen ab. »Auf geht’s! Draußen warten die ersten Patienten.« Mit diesen Worten nickte er Iris zu, die ihm lächelnd folgte.
»Okay, wie wäre es jetzt mit einem richtigen Frühstück für dich?« Juna mochte nicht kochen können, aber wie man das Herz eines Vierbeiners eroberte, wusste sie ganz genau. Finns Antwort fiel entsprechend aus: Er wedelte mit dem Schwanz und gab kleine, fordernde Laute von sich. Juna zweifelte, dass der Hund jemals die ihm zugedachte Aufgabe als Wachhund erfüllen würde. Wenn sie sich nicht sehr täuschte, sah sie gerade ein schottischer Setter aus mandelförmigen Augen an. Trotz der unterschiedlich langen Ohren, die ihm ein verwegenes Aussehen verliehen, war er ein reinrassiger Jagdhund, der in der Stadt nichts zu suchen hatte.
Es dauerte nicht lange, und die beiden jungen Frauen wurden Freundinnen. Manchmal gingen sie zusammen aus und stellten schnell fest, dass sie die gleichen Pubs mochten, über die gleichen Dinge lachen konnten und in der Buchhandlung zu ähnlichen Titeln griffen. Nur beim Musikgeschmack unterschieden sie sich. Während Juna lieber melodische Songs hörte, liebte Iris alles, was sperrig und laut war.
Auch ihr Charakter unterschied sich in einem wesentlichen Punkt: Juna mochte niemanden verärgern, während Iris keinem Streit aus dem Weg ging. »Unbritisch« nannte sie eine verärgerte Kundin, weil Iris ihr in wenigen klaren Worten gesagt hatte, was sie davon hielt, wie die Frau mit ihren Hunden umging. Bei den meisten anderen Tierbesitzern zeigte sie ebenfalls wenig Nachsicht, wenn diese ihre Rechnung nicht sofort begleichen wollten. »Kein Geld, keine Behandlung«, war ihr Motto. Andererseits hatte Juna
genau gesehen, wie sie Mrs Webster Futterproben verschiedener Hersteller in einen Beutel gepackt und diesen für die alte Dame sogar noch bis zur Tür gebracht hatte. Weder Juna noch ihr Großvater verloren je ein Wort darüber, denn jeder in der Straße wusste, dass die alte Frau den letzten Penny der schmalen Rente für ihre Katzen ausgeben würde.
Die Freundinnen hätten ohne weiteres ihre Kleidung tauschen können, wenn sie den gleichen Geschmack gehabt hätten. Während Juna jedoch besonders im Sommer gern Kleider trug, sah man Iris meist in knappen Shorts, hohen Schuhen und bauchfreien Shirts.
Ein anderes Unterscheidungsmerkmal waren ihre Haare. Juna wunderte sich, warum ihr Großvater niemals eine Bemerkung dazu machte, denn wie aufgeschlossen er auch sein mochte, die Straßenmode junger Leute fand nicht seine Zustimmung.
Iris änderte ihre Frisuren und Haarfarben so häufig, dass man meinen konnte, sie besäße eine Friseurflatrate. Das Gleiche schien für das Tattoostudio in der Duke Street zu gelten. Ihre Arme waren bunt gemustert, und auch an Piercings mangelte es ihr nicht. Das allein war vielleicht noch nicht einmal so ungewöhnlich, aber die Bilder, die ihren Körper schmückten, waren ausschließlich biblischer Natur. Eine blutüberströmte Frau Lot beispielsweise, die von Ungeziefer und Heuschrecken geplagt wurde, war schon ein einigermaßen ungewöhnliches Motiv - so etwas hatte Juna auch in London noch nie zuvor gesehen.
Und es gab noch einen Unterschied. Iris ging regelmäßig zum Gottesdienst. Der Pfarrer von St. Mungo hatte anfangs große Schwierigkeiten, damit klarzukommen. Inzwischen war sie jedoch ein gerngesehenes Mitglied der
Gemeinde und kümmerte sich um Jugendliche aus den Vororten. Juna kam sich neben ihr immer langweilig vor. Sie war von durchschnittlicher Statur, aber immer schon ein wenig zu dünn gewesen, und die heiß ersehnten weiblichen Rundungen hatten sich erst viel später als bei den anderen Mädchen und keineswegs in gewünschter Weise eingestellt. Also gab es wenig Grund, sich ebenso freizügig zu kleiden wie ihre Freundin, die von allem ein bisschen mehr zu haben schien. Zumal Junas Haut milchweiß war und bei der geringsten Sonneneinwirkung die Farbe eines frisch gebrühten Hummers annahm. Letzteres ließ sich vermeiden, doch dann gab es da auch noch diese Sommersprossen, die sich leider besonders auf ihrer Nase wohlzufühlen schienen. Ihre Großmutter hatte immer gesagt, dass jemand mit viel Freude an Farbe Junas Haare geschaffen haben musste, denn sie leuchteten wie ein herbstlicher Laubwald, waren weder richtig rot noch braun, und zwischendrin schienen manchmal blonde Lichter aufzutauchen. Vor allem aber waren sie viel zu schwer und glatt, um sich jemals zu irgendeiner Frisur bändigen zu lassen. Wäre
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