Flusskrebse: Roman (German Edition)
Mal rechnete er nach, wie lange er hier eigentlich schon lebte. Waren es zwanzig Jahre oder mehr? Er suchte den Mietvertrag heraus, um das Datum festzustellen, denn er merkte sich keine Jahreszahlen. Es waren fast dreißig Jahre.
In der ersten Hälfte seines bisherigen Lebens hatte er die Wohnungen sehr oft gewechselt. Mit den Eltern hatte er im 4., im 1., im 16. und im 10. Bezirk gelebt. Seine erste eigene Wohnung hatte er im 2. Bezirk bezogen, bald nach der Matura. Mit seiner Frau und dem Kind hatte er im 13. und später im 4. Bezirk gelebt. Nach der Trennung dann im 9. Bezirk in der Wohnung einer Bekannten und danch im 7. in einer Wohngemeinschaft. Als die sich aufgelöst hatte, war er in den 5. Bezirk zu seiner Freundin gezogen, und als die ihn verlassen hatte, in den 10. in die Wohnung eines Freundes, die der gerade nicht brauchte. Dann hatte er die Wohnung im 12. gefunden. Zimmer, Küche und Kabinett im obersten Stockwerk, das Klosett am Gang, mit den Nachbarn zu teilen. Freunde halfen ihm, die Wohnung auszumalen. „Das Kabinett muss einmal eine eigene Wohnung gewesen sein“, sagte er zu ihnen. „Die Tür zur Küche ist eigentlich eine Wohnungstüre und der Vorraum hat denselben Kunststeinboden wie der Gang, seht ihr? Unglaublich, wie die Menschen einmal gehaust haben.“
Wie lange hatte er mit der Dusche in der Küche, dem Klosett am Gang gehaust? Erst spät hatte er die Nachbarwohnung dazugemietet, noch einmal Zimmer und Küche. Er hatte die Wohnungstür versetzen lassen, so dass das Klo jetzt innerhalb der Wohnung war, und ein Badezimmer einrichten lassen. Den Schiffboden aus Lärchenholz hatte er selber verlegt, deswegen knarrte der so. Aber zuerst hatte er die Nachbarwohnung ein Jahr lang leer stehen lassen, bis der Heizölgeruch verflogen war und die Erinnerung an all die Nachbarn, die da gehaust hatten. Erst hatte da ein ernsthafter junger Mann gewohnt, der jeden Tag ins Büro ging, dann kurzfristig dessen pdeantische Schwester. Dann war ein Student eingezogen, der an Samstagen ziemlich lange Partys feierte. Später trat er einer Urchristengemeinde bei. Ein Jahr lang hatte ein rumänisches Ehepaar mit zwei Kindern in dem einen Raum gewohnt. Durch die Wand hatte er sie am Abend immer lachen gehört, hatte an ihrem fröhlichen, liebevollen Familienleben teilgenommen. Die letzte Nachbarin war eine nicht mehr ganz junge, oft betrunkene Frau gewesen. Manchmal klopften Männer an ihre Türe, die sie einließ oder auch nicht. Wenn sie sie nicht einließ, klopfte sie bisweilen auch an seine Türe. Einmal hatte sie ihn zu einem Kaffee eingeladen und ihm Verworrenes aus ihrem Leben erzählt. Als er verständnisvoll nickte und etwas Mitfühlendes murmelte, saß sie schon auf seinem Schoß und umarmte ihn tränenreich. Danach war er ihr, so gut es ging, aus dem Weg gegangen.
Gelegentlich hatten Frauen seine Wohnung geteilt. Doch das waren immer nur zeitweilige Übergangslösungen gewesen. Er hatte sich daran gewöhnt, alleine zu leben. Seine Freundin sah er zweimal, dreimal die Woche. Wenn sie zu ihm kam, kochte er für sie, wenn er zu ihr kam, kochte sie für ihn. Oder sie gingen eben irgendwohin essen.
Der Hausverwalter, seit einiger Zeit auch Besitzer des Hauses, kam selber vorbei, um mit ihm zu sprechen. Es war der Sohn des alten Hausverwalters, mit dem er damals den Mietvertrag geschlossen hatte. Der hatte ihm für die zweite Wohnung noch eine illegale Ablöse abgenommen, offiziell für ein paar Möbel, die da noch herumstanden. Eigentlich hatte er vorgehabt, das Geld einzuklagen, bevor die Verjährungsfrist ablief, aber dann hatte er den Zeitpunkt verpasst. Die Fotos der wertlosen Möbel lagen noch immer in einer Mappe auf dem selbstgetischlerten Schreibtisch, so wie vieles, was er demnächst einmal zu erledigen sich vorgenommen hatte. Der junge Immobilienmakler, elegant im kurzen Mäntelchen, die Haare gegelt, erklärte ihm sein Vorhaben: statt des Schuppens würde eine Garage in den Hof kommen, das jetzige Haustor würde zur Garageneinfahrt, eine neue Haustür würde daneben durchgebrochen werden, Wohnungen würden zusammengelegt, das Dach abgetragen, ein Stockwerk aufgesetzt werden, ein Lift würde eingebaut und Balkone vor die Fenster gesetzt werden. Der Umbau würde schon so eineinhalb bis zwei Jahre dauern, und deshalb mache er ihm das Angebot, ihm bei der Suche nach einer neuen Wohnung behilflich zu sein und auch einen Zuschuss zu den Kosten des Umzugs zu geben. „Was meinen Sie, Herr
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