Flusskrebse: Roman (German Edition)
schaute er noch einmal in die Wohnung im zweiten Stock hinein. Der junge Mann lag in seine Decken gewickelt auf dem Holzboden und schlief. Die Wollmütze war ihm vom Kopf gerutscht und hatte seine Dreadlocks freigegeben, die nach allen Richtungen abstanden. Vorsichtig trat der Mieter den Rückzug an, um ihn nicht zu wecken.
Er fuhr mit dem Fahrrad ins Büro. Mit dem Auto zu fahren war sinnlos und die U-Bahn würde heiß und stickig sein. Während er sich durch den Verkehr schlängelte, bedrängten ihn widersprüchliche Gefühle. Er war erleichtert, dass er nun doch nicht einen kranken Flüchtling aus dem Haus vertrieben hatte. Gleichzeitig fühlte er Unsicherheit. Der Fremde wusste nun, dass da im Haus noch eine bewohnte Wohnung war. Die Tür war nicht sehr sicher. Und wo hatte der Fremde sich versteckt gehabt, als er nach ihm sehen wollte?
Als er vor dem Büro sein Fahrrad absperren wollte, griff er in die Hosentasche nach dem Schlüssel. Er hatte noch immer die Tabletten bei sich. Die hätte er dem jungen Mann doch hinlegen können. Dann hätte der sie beim Aufwachen gefunden. Vielleicht eine zu theatralische Geste? Aber warum eigentlich? Der junge Mann hatte Fieber.
Als er am späten Nachmittag nach Hause kam und in die Wohnung im zweiten Stock schaute, war der Fremde nicht da. Der Mieter legte die Tabletten auf ein Fensterbrett.
Zwei Stunden später läutete es an seiner Tür. „Entschuldigen Sie bitte, falls ich Sie stören sollte. Ich wollte mich für Ihre Freundlichkeit sehr herzlich bedanken!“ Der Fremde legte die rechte Hand auf sein Herz und neigte den Kopf.
„Das ist doch kein Problem. Kommen Sie herein.“
Der Fremde wehrte ab: „Nein, nein. Ich muss mich entschuldigen. Ich war misstrauisch, ich habe gedacht, Sie wollen mir nicht wirklich Tabletten bringen, ich habe gedacht, Sie telefonieren nach der Polizei. Ich bin auf die Straße gegangen, um die Ecke, und habe gewartet. Als ich gesehen habe, dass keine Polizei kommt, bin ich zurückgekommen. Heute habe ich die Tabletten gefunden und ich möchte Ihnen nur danke sagen..“
Der Mieter bestand auf seiner Einladung. Der Fremde wehrte weiter ab. Der Mieter bestand energischer: „Ich bitte Sie, kommen Sie. Trinken Sie eine Tasse Tee!“
„Nein, vielen Dank, aber ich gehe jetzt.“
Der junge Mann zog sich zur Treppe zurück. „Nochmals vielen Dank, danke schön!“ Er verbeugte sich, dann drehte er hastig um und lief hinunter.
Der Mieter schloss die Tür. Er überlegte, ob er nicht mit zwei Tassen Tee hinuntergehen sollte, aber er beschloss, den jungen Mann, der recht angespannt zu sein schien, in Ruhe zu lassen. Er setzte sich an den PC und suchte im Internet nach einem Programm, mit dem er Landkarten nachzeichnen konnte. Solche Nebenarbeiten nahmen viel zu viel Zeit in Anspruch. Einerseits war es schon unglaublich, was man heute alles selber machen konnte, wenn man bereit war, sich in unterschiedlichste Programme einzuarbeiten. Andererseits wurde es aber auch immer mehr gefordert. Manche Verlage erwarteten, dass man ihnen die Bücher mit fertigem Layout lieferte.
Draußen wurde es langsam finster und er wurde hungrig, fand aber nichts in seinem Tiefkühlschrank, was er sich kochen wollte. Er zog Sandalen an, um sich von der Pizzeria unten am Eck eine Cardinale und eine Flasche Wein zu holen. Als er mit seinen Einkäufen wieder die Treppe hinaufstieg, fand er den Fremden mit seinem Langenscheidt und einer Gratiszeitung unter dem Ganglicht im zweiten Stock stehen.
„Sie studieren?“ fragte er, um irgend etwas zu sagen.
Der junge Mann schrak zusammen. Er hatte ihn wohl nicht kommen gehört.
„Es gibt kein Licht, da drinnen“, sagte er, nachdem er sich gefasst hatte. In dem Moment ging das automatische Licht aus. Der junge Mann hob wie gewohnheitsmäßig die Hand zu dem Lichtschalter neben seiner Schulter, dann zögerte er und sah den Mieter an.
Der glaubte das Zögern zu verstehen: „Schalten Sie ruhig ein. Den Strom muss der Hausbesitzer zahlen, nicht ich. Aber können Sie so studieren, wenn Sie alle drei Minuten das Licht wieder einschalten müssen?“
„Meistens schalte ich nicht gleich wieder ein. Ich gehe erst in Gedanken durch, was ich gelesen habe. In der Dunkelheit kann ich mich besser konzentrieren.“
„Mhm.“ Der Mieter nickte, wie um diese Methode gutzuheißen. „So ähnlich habe ich Französisch gelernt. Vor vielen Jahren. Mit der Zeitung und dem Wörterbuch. Ich war in Frankreich und habe auch nicht viel Geld
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