Flusskrebse: Roman (German Edition)
geschehen?“
„Ich weiß es nicht. Nach einem Monat oder so kamen ein paar Frauen in die Siedlung gelaufen und sagten, die Interahamwe seien wieder da. Sie packten ihre Kinder und Ehemänner zusammen und verschwanden im Wald. Ich lief auch in den Wald, aber ich hielt mich fern von den anderen, ich wollte alleine sein. Ich dachte, ein Einzelner wird nicht so leicht gefunden. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist.“
„Du warst noch ein Kind“, sagte Juvénal leise.
Alle schwiegen bedrückt. Patrice selber durchbrach die Stille: „Und bestätigt dieses Buch nun das, was Miheto gesagt hat: Dass sie keinen Krieg gekannt haben, als sie noch ihr ursprüngliches Leben lebten? Gilt das für andere Sammler-. und Jägervölker auch?“
„Ja, das gilt für die meisten Sammler- und Jägervölker, die der Wissenschaft bekannt geworden sind.“
„Aber wie konnte es sein, dass spätere Menschen wieder einen gewalttätigen Charakter bekamen, wenn die frühen Menschen eine friedliche Natur hatten?“ wunderte sich Juvénal.
„Nein, nein, dass sie keine Kriege geführt haben, heißt nicht, dass sie nicht gewalttätig waren. Die San in der Kalahari zum Beispiel sind bekannt dafür, dass sie keine Kriege geführt haben. Aber es gab unter ihnen eine der höchsten Mordraten der Welt. Mord aus Eifersucht war bei ihnen an der Tagesordnung.“
„Das verstehe ich nicht.“ Juvénal schüttelte energisch den Kopf.
„Das zeigt eben, dass die Ursache der Kriege nicht der aggressive Charakter der Menschen ist. Die Aggressivität ist nur eine Voraussetzung dafür, dass Kriege überhaupt möglich sind. Aber sie allein verursacht noch nicht den Krieg.“
Frau Saberi mischte sich ein: „Worum sollten die San oder die BaTwa denn Krieg führen? Diese Menschen hatten doch keine Vorräte, keine Häuser, keine Schätze. Sie konnten einander doch gar nichts wegnehmen. Und wozu sollten sie fremdes Land erobern? Sie konnten doch ihre Jagdgründe nicht unbegrenzt ausdehnen, was hätte ihnen das genutzt? Sie hätten deswegen nicht mehr Wild erbeuten oder Nüsse sammeln können. Sie sind vielleicht imstand zu morden, sie können aggressiv sein, aber sie führen keinen Krieg, weil Krieg ihnen nichts nützt. Denkt an das Singvogelpärchen!“
Juvénal runzelte die Stirn: „Und wann sind aus Singvögeln Ameisen geworden?“
In dieser Nacht versuchte Frau Saberi sich umzubringen. Gegen zwei Uhr wachte Frau Zhao auf, weil sie – wie sie später erzählte – Frau Saberis Atem nicht mehr neben sich hörte, und begann sofort nach ihr zu suchen und im ganzen Haus Türen zu öffnen. Eines der Gangklos im ersten Stock war verriegelt. Als Patrice und Juvénal die Tür aufbrachen, fanden sie Frau Saberi mit einer Mülltüte über dem Kopf und zwei dicken Gummibändern um den Hals. Sie war vom Toilettensitz zu Boden gesunken und ihr Körper zitterte in beginnenden Krämpfen. Patrice versuchte ihr den Plastiksack vom Kopf zu ziehen, doch das gelang ihm nicht gleich, weil die Gummibänder den Sack festhielten, also bohrte er seine Finger hinein und zerriss ihn. Frau Saberi begann zu atmen. Sie kauerte auf dem Boden, hielt die Augen geschlossen und schüttelte den Kopf. Niemand sagte etwas. Als sie etwas zu Kräften gekommen war, stützte sie sich mit der Hand auf die Klomuschel, wehrte Juvénals helfende Hand ab und stemmte sich hoch. Sie schaute einem nach dem anderen ins Gesicht. „Verzeihen Sie, bitte“, sagte sie. „Ich bitte Sie aus ganzem Herzen um Verzeihung.“ Dann ließ sie den Kopf sinken. „Es wäre ein durchaus angenehmer Tod gewesen. Aber ich habe ihn wohl nicht verdient.“
Mautner erfuhr von all dem erst zwei Tage später. Juvénal hatte ihn anscheinend auf der Treppe abgepasst, obwohl er so tat, als wäre die Begegnung eine zufällige. „Wir machen uns Sorgen. Was ist, wenn es auffällt, dass so viele Leute hier ein- und ausgehen? Wird man nicht die Polizei rufen? Werden Sie nicht in Schwierigkeiten geraten?“
Mautner lachte: „Darüber habe ich auch nachgedacht. Wissen Sie, was ich glaube: Die Hausverwaltung weiß längst Bescheid! Die rechnen damit, dass sie mich leichter zum Ausziehen bewegen können, wenn das Haus von Obdachlosen besiedelt wird. Wenn ich ausziehe, können sie das Haus abreißen und ein neues herstellen, was vermutlich billiger ist, als diese alte Zinskaserne zu sanieren.“
Juvénal nickte, doch etwas abwesend. „Darf ich Sie noch etwas anderes fragen: Was halten Sie von
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