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Flut

Flut

Titel: Flut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Galera
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weiß nicht, wie er gelächelt hat. Ich weiß auch nicht, wie ich lächle. Ich vergesse es.
    Sein Vater sagt, sein Großvater und er hätten nicht nur das gleiche Lächeln, sondern ähnelten sich auch in anderer Hinsicht. Der Großvater habe zum Beispiel dieselbe Nase gehabt, schmaler als seine eigene. Das breite Gesicht, die tiefen Augenhöhlen. Dieselbe Hautfarbe. Sein indianisches Blut sei am Sohn vorbei direkt auf den Enkel übergegangen. Deine athletische Figur, sagt er, die hast du mit Sicherheit auch von ihm. Er war etwas größer als du, wahrscheinlich eins achtzig. Damals hat niemand so Sport getrieben wie du jetzt, aber so wie dein Großvater Holz gehackt hat, wie er die Pferde zugeritten und auf dem Feld gearbeitet hat, hätte er diese Triathleten von heute alle in die Tasche gesteckt. Bis ich zwanzig war, sah mein Leben auch so aus, glaub also nicht, ich wüsste nicht, wovon ich rede. Wenn wir zusammen auf dem Feld standen, hat mich immer beeindruckt, wie stark er war. Einmal vermissten wir ein Schaf und fanden das Tier dann in der Nähe vom Zaun zum Nachbargrundstück, fast drei Kilometer vom Haus entfernt. Während ich darüber nachdachte, wie wir mit dem Pick-up dort hinkommen, und schon ahnte, dass mein Vater mich losschicken würde, um ein Pferd zu holen, schulterte er das Tier und lief los. So ein Schaf wiegt vierzig, fünfzig Kilo, und du erinnerst dich vielleicht, wie es in der Gegend aussah, wo wir damals gewohnt haben, es war ziemlich hügelig, und überall lagen Steine rum. Ich war gerade mal siebzehn und wollte helfen, aber mein Vater meinte nur, nein, es liegt gut so, wie es ist, das Auf- undAbsetzen ist viel zu anstrengend, also lass uns einfach laufen, das Wichtigste ist, einfach weiterzulaufen. Ich hätte das Tier mit Sicherheit keine zwei Minuten tragen können. Ich war nicht unbedingt schmächtig, aber ihr beide seid aus einem anderen Holz geschnitzt. Auch vom Temperament her. Dein Großvater war eher der ruhige Typ, so wie du. Schweigsam und diszipliniert. Er redete nur das Nötigste und war schnell genervt, wenn man ihn vollquatschte. Da hört die Ähnlichkeit dann aber auch auf. So sanftmütig und gut erzogen, wie du bist, so jähzornig war er. Meine Güte, was konnte der Kerl ausfallend werden. Er war bekannt dafür, beim geringsten Anlass das Messer zu ziehen. Kaum war er auf irgendeinem Fest, fing er Streit an. Und ich verstehe bis heute nicht, warum. Er trank nicht viel, rauchte nicht, spielte nicht und fing auch nichts mit Frauen an. Deine Großmutter war fast immer dabei, und komischerweise schien ihr seine gewalttätige Seite nichts auszumachen. Sie hörte ihn gern Gitarre spielen. Er spielte unglaublich gut. Einmal sagte sie zu mir, er sei so geworden, weil er eine Künstlerseele habe und sich für das falsche Leben entschieden habe. Dass er durch die Welt reisen und seine philosophischen Gefühle hätte rauslassen sollen – das waren ihre Worte, ich erinnere mich noch genau –, statt auf dem Feld zu arbeiten und sie zu heiraten, aber dass er diesen Weg schon sehr früh verworfen hatte und es danach zu spät war, weil er ein Mann mit strengen Prinzipien war und umzukehren einen Verstoß gegen diese Prinzipien bedeutet hätte. So erklärte sie sich seinen Jähzorn, und ich kann das nachvollziehen, obwohl ich ihn nie gut genug kennengelernt habe, um mir da sicher zu sein. Ich weiß nur, dass er schnell mit den Fäusten und mit dem Messer zugange war, ob mit oder ohne Grund.
    Hat er jemanden getötet?
    Nicht dass ich wüsste. Ein Messer zu ziehen bedeutet noch lange nicht, dass man auch zusticht. Ich denke, er wollte sich eher behaupten. Ich kann mich auch nicht daran erinnern,dass er jemals verletzt nach Hause gekommen wäre. Außer nach dem Schuss.
    Dem Schuss.
    Jemand hatte ihn in die Hand geschossen. Das hab ich dir aber schon mal erzählt.
    Stimmt. Und das hat ihn mehrere Finger gekostet, oder?
    Bei einer seiner Auseinandersetzungen ist er auf einen Typen losgegangen, und der hat dann einen Warnschuss abgegeben, der ihn an der Hand erwischt hat. Dabei hat er ein Stück vom kleinen Finger und vom Ringfinger verloren. An der linken Hand, der Greifhand. Wochen später hat er die Gitarre genommen und spielte schon nach kurzer Zeit genauso gut wie vorher. Es gab Leute, die meinten, er spiele sogar besser. Ich kann das nicht beurteilen. Jedenfalls entwickelte er eine total verrückte Fingertechnik. Vielleicht sind die beiden Finger gar nicht so wichtig. Keine Ahnung. Ihm haben

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