Flutgrab
Erde, schöne schmoddrige, stinkende Erde. Ufer. Die Welt hat mich wieder.
»Marek«, stöhnte er und knurrte: »Hör verdammt noch mal auf, mich mit Wasser vollzufüllen.«
Sein Grummeln brachte Marek zum Lachen. Der Kapitän zitterte. Er war ebenfalls klitschnass, hatte sich auf Rungholts Bauch gesetzt und seine Brust gedrückt.
»Ich habe Rungholt gesehen. Nicht mich, die Stadt.«
Der Kapitän lächelte ihn an. »Es ist alles gut. Du lebst. Ich hab dich rausgefischt.«
»Sinje? … Die Kinder?«
Marek nickte zur Seite, und Rungholt erkannte Sinje im Regen. Die weinroten, nassen Kleider zeichneten ihre stolze Statur begehrenswert vor die Flammenwände der Gebäude. »Kerkring ist gekommen. Er hat drei Armbruster und wer weiß wie viele Bogenschützen mitgebracht.«
»Und Riddere«, warf Sinje ein, trat heran und kniete sich zu Rungholt. Sie fühlte seinen Puls, band ein Säckchen vom Gürtel und benetzte seine Lippen mit einem Pulver.
»Er hat sie befreit«, sagte Marek. »Die Kinder sind frei. Kerkring hat sie alle befreit.«
»D’ Alighieri?«
Marek konnte nur mit den Achseln zucken. »Tot. Sicher tot.«
»Kerkring …« Rungholt hatte kaum Kraft zu sprechen, musste aber an den Schädel denken, der vor seiner Nase in die Engelsgrube gefallen war. »Wahrscheinlich hat er den See erkannt, den im Schädel, und hat die Schreie gehört.«
Rungholt nickte. Er wollte den Kopf heben, aber Marek musste ihn stützen. Hundert Klafter weiter das Ufer hinunter konnte er vor den Flammen der Hütten Riddere auf ihren Pferden sehen. Sie kämpften noch immer mit d’ Alighieris Bütteln und zweien der Handwerker.
Rungholt ließ seinen Blick gen Lübeck schweifen, zumindest dorthin, wo er die Stadt hinter Fichten, Niesel und Nebel vermutete. In den Wrasen zeichnete sich Kerkrings Silhouette ab. Seine beleibte Statur auf dem Rücken eines Kaltblüters. Zwei Männer brachten im Laufschritt die Kinder zu ihm. Der Rychtevoghede lächelte, wenn Rungholt in Rauch und Nebel richtig sah. Ein frohes Lächeln. Ungewohnt für den Ratsmann. Auch Rungholt musste lächeln. Sie waren gerettet. Das war die Hauptsache.
»Ich habe sie nach Hause gebracht«, meinte Rungholt. »Die sechs. Wir haben sie nach Hause gebracht. Auch wenn Kerkring mit den Kindern durchs Stadttor reitet.«
Sinjes Hand umschloss Rungholts. »Ja.« In ihrem Blick lag etwas Tröstendes.
»Ja«, meinte Marek gleichfalls. »Wir haben sie gefunden.«
»Und er wird wie ein König heimkehren«, rang Rungholt nach Atem.
Ein letztes Mal sah er sich zu den Flammen und dem Rychtevoghede um. Kerkrings Blick suchte den See ab, das Ufer. Er hielt vom Pferd aus Ausschau, suchte nach ihnen. Rungholt fiel zurück in den Uferschlick. »Kerkring«, hauchte er. »Wir haben die Kinder gefunden – und er wird uns jagen.«
Er schloss die Augen und spürte, wie Marek ihn sanft ins Schilf bettete, dann einen Kuss von Sinje auf seiner Stirn. »Das wissen wir«, hörte er sie hauchen. »Das wissen wir, Rungholt. Er wird uns alle drei jagen.«
Rungholt nickte. Einen Atemzug später schwanden seine Kräfte erneut, und er wurde ohnmächtig.
Der wochenlange Regen hatte die Erde um Lübeck zu einem Schlammpfuhl werden lassen, in dem die Pferde immer wieder bis zum Oberschenkel versackten. Sie konnten sich nur mit Mühe befreien, schnaubten, keuchten und schwitzten bereits nach wenigen hundert Klaftern.
Für eine halbe Meile brauchten Rungholt, Marek und Sinje den ganzen Tag. Sie wollten Lübeck umrunden, wagten aber nicht, die etwas besseren Wege zu benutzen. Zwar gab es um die Stadt kaum befestigte Straßen, doch immerhin die Handvoll Hauptwege waren vermutlich besser passierbar. Aber leider sehr belebt.
Sie wollten nicht auffallen, versuchten deswegen im Wald zu bleiben und kreuzten Felder und Äcker nur, wenn es nicht anders ging. Hier waren sie ungeschützt und gaben ein prächtiges Ziel ab. Nicht nur das, durch den Regen waren die Äcker selbst zur Todesfalle geworden. Wenn sich die Kaltblüter nicht mehr aus dem Morast ziehen könnten und sie gezwungen wären abzusteigen, hätte der Schlamm sie bis zum Bauch, bis zur Brust umschlungen und für immer festgehalten.
Nachdem die drei vom See geflüchtet waren und Rungholt ein wenig Kraft gesammelt hatte, waren sie sofort in Richtung Lübeck aufgebrochen. Sie hatten gehofft, im Getümmel an der Holstenbrücke untertauchen zu können. Einige hundert Menschen hatten sich um den Wal versammelt, der inzwischen auf der
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