Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Fluchweberin

Die Fluchweberin

Titel: Die Fluchweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
Vom Netzwerk:
 1 
    »Versteck dich!«
    Mom riss die Schranktür auf und bedeutete mir, hineinzukriechen. Doch ich konnte mich nicht bewegen. Ich konnte nur auf den offenen Schlund starren, dessen Dunkelheit mich verschlingen würde, wenn ich noch einen Schritt vorwärts machte. Und auf das Gesicht meiner Mutter; bleich und versteinert. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ich war zu klein, um zu begreifen, welche Gefühle sich darin widerspiegelten, trotzdem ahnte ich, dass sich alles für immer verändern würde, sobald ich einen Schritt in den Schrank machte.
    »Mach schon, Raine!« Ich spürte die Wärme ihrer Hand auf meinen Rücken, als sie mich vorwärts schob, und wollte mich in ihre Arme werfen, aber sie hielt mich auf Abstand. »Du musst jetzt ganz leise sein, Liebes.« Ihre Stimme bebte und ihre Augen schimmerten feucht. »Schließ die Augen und halte dir die Ohren zu. Und ganz gleich, was auch passiert, vergiss nicht, dass ich dich liebe!«
    Ihre Worte versetzten mir einen Stich. Sie klangen so endgültig. Als würde ich sie nicht mehr wiedersehen, sobald sich die Schranktür hinter mir schloss. Aber das war natürlich Unsinn. Nächste Woche war meine Einschulung und Mom und Dad planten schon seit Wochen, wie wir diesen Tag feiern wollten.
    »Mommy?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Du musst jetzt tapfer sein.«
    Ein letzter Schubs, dann war ich im Schrank. Die Tür schloss sich hinter mir, Dunkelheit hüllte mich ein. Ich wollte hier raus, wollte der Finsternis und dem Zederngeruch entkommen, der aus den kleinen Duftsäckchen in die Luft stieg, die zwischen den Kleidern hingen. Einzig der Ernst in Moms Stimme und das, was ich in ihren Augen gesehen hatte, hielten mich zurück. Dass ich hier drin war, hatte etwas mit dem Lärm zu tun, der von unten kam.
    Und es war noch nicht vorbei.
    Schwere Schritte, begleitet von gebellten Befehlen, näherten sich dem Kinderzimmer, immer wieder durchbrochen von den aufgebrachten Rufen meines Dads. Ich hatte Dad noch nie schreien gehört, nicht einmal erlebt, dass er je laut geworden wäre. Von wachsender Angst erfüllt kroch ich in den hintersten Winkel des Schrankes. Dorthin, wo die Finsternis am undurchdringlichsten war und die wenigen Lichtstreifen, die durch die Lamellen der Schranktür hereinfielen, unendlich weit entfernt schienen. Ich wollte Mom gehorchen, wollte die Augen schließen und mir die Ohren zuhalten, allein schon, um Dads Gebrüll nicht länger hören zu müssen. Doch ich konnte mich nicht bewegen.
    Dads Rufe wurden lauter und unter seine Wut mischte sich noch etwas anderes. Etwas, das ich nicht benennen konnte, das mir aber noch größere Angst machte als das Geschrei.
    Durch die Lamellentür hindurch sah ich, wie Mom das Fenster öffnete. Wollte sie aufs Dach steigen? Bevor ich eine Antwort darauf fand, flog die Tür auf. Schwarz gekleidete Männer, die Gesichter unter Stoffmasken verborgen, stürmten ins Zimmer. Sie trugen Pistolen und Gewehre und dicke Westen, die wie eine Rüstung aussahen. Doch das waren nicht die edlen Ritter, die ich aus Dads Geschichten kannte. Die schwarzen Männer waren böse!
    »Stehen bleiben!«, rief einer von ihnen, der die Waffe auf Mom richtete.
    Sie erstarrte.
    Von hinten bahnte sich Dad einen Weg an den schwarzen Männern vorbei und baute sich zwischen ihnen und Mom auf. »Verlassen Sie sofort mein Haus!«
    Die Männer in Schwarz rührten sich nicht vom Fleck.
    »In diesem Haus wird Magie praktiziert«, sagte einer von ihnen. »Gemäß Paragraf 3 der Schutzverordnung zur Abwendung von Gefahren durch die unlautere Ausübung von Magie sind wir berechtigt, den Verursacher festzunehmen.«
    Ich begriff nicht, wovon er sprach, hatte keine Ahnung, was ein Verursacher war oder was praktizieren bedeutete. Ich verstand nur, dass er von Magie sprach und dabei klang, als sei das etwas Schlechtes.
    Sein Blick richtete sich auf Mom. »Sarah MacDaniels, Sie sind verhaftet. Bitte folgen Sie uns.«
    Mom zögerte einen Moment, ihr Blick schoss durch mein Zimmer, überallhin, nur nicht zum Schrank. Dann machte sie einen Schritt auf den Mann zu, der gesprochen hatte.
    Dad vertrat ihr den Weg. »Meine Frau wird nirgendwohin gehen. Wir haben nichts getan.«
    »Machen Sie sich nicht lächerlich! Unsere Messgeräte haben beinahe bis zum Anschlag ausgeschlagen!«
    »Messgeräte«, schnappte Dad. »Sie haben unser Haus …«
    »Überwacht. Ja.«
    »Dazu haben Sie kein Recht!«
    »Der Verdacht auf Ausübung von Magie befugt uns, alle notwendigen Schritte zu

Weitere Kostenlose Bücher