Flutgrab
Blick zu.
»Meenkens stellt die Rotsponfässer für den Ratskeller her, ich kenne ihn flüchtig. Agnes hat bei mir im Haus gearbeitet. Es gab Streit mit meiner Frau, nun ja … Ich habe sie zum Meenkens geschickt. Der gute Mann ist über fünfzig und am Boden zerstört. Ich hab’s ihm verschwiegen, aber ich kann Agnes doch nicht wie eine der anderen Verhungerten behandeln.«
Langsam begriff Rungholt, warum der Bürgermeister ausgerechnet zu ihm gekommen war. Die beiden kannten sich nicht sehr gut, schätzten sich aber. Immerhin war es Dartzow gewesen, der Rungholt geholfen hatte, den Dornenmann zu stellen, und ihm Unterstützung bei Van der Hune gewährt hatte.
»Hat er gesagt, warum sie weg ist? Wieder Streit?«
Dartzow wischte sich die verschwitzten, langen, blonden Haare aus dem Gesicht. Er war vor ein paar Jahren erst mit zweiundvierzig Bürgermeister geworden und war noch immer eine imposante Erscheinung. »Nein«, sagte er knapp. »Sie ist fortgerannt. Wahrscheinlich eine Liebe.«
»Wahrscheinlich eine Liebe«, wiederholte Rungholt grübelnd und wandte sich wieder der Magd zu. »Soso. Die Liebe … Was hast du nur angestellt, Agnes …?«
Ohne den Blick von ihr zu nehmen, zog er sich einen Tonbecher heran, den er sich vom Hospitalmeister geliehen hatte, und ließ die Tannennadeln hineinfallen. Er suchte noch einen Moment weiter, konnte jedoch sonst nichts in ihren Haaren oder auf der Kopfhaut entdecken. Sicherlich hatte der andauernde Regen allen Staub und Dreck fortgespült. Ihre Fingernägel waren ebenfalls sauber. Ungewöhnlich für eine Magd, schoss es Rungholt durch den Kopf. Er sah sich die Finger der Reihe nach an, zückte seinen bereitgelegten Holzspan aber erst beim Ringfinger der linken Hand.
Vorsichtig kratzte er mit dem Holz etwas Dreck unter dem Nagel heraus. Es waren bloß einige Körnchen. Rungholt konnte nicht sagen, was es war, aber für Erde war die Substanz zu hell. Sand? Sie schimmerte, glitzerte, als er den Span ins Licht hielt. Er strich das Holz am Tonbecher ab.
Abermals nahm er sich ihr Gesicht vor, legte seine Pranke auf ihre Wangen. Seine Hand umschloss beinahe ihr ganzes Antlitz. Zierlicher Kopf, massige Hand. Er versuchte, ihren Kiefer zu bewegen, ihren Schädel, ihre Arme, doch die Tote ließ es nicht zu.
»Was seht Ihr?« Dartzow wedelte den Tannenqualm beiseite, konnte sich aber nicht überwinden, noch einen Schritt näher zu kommen.
Was ich sehe?, dachte Rungholt. Zwanzig Jahre, feine Haut, blondes Haar. Zwanzig Jahre Leben, unendlich langer Tod. Das sehe ich.
»Die Toten erstarren, Dartzow. Damit sie in den Himmel hinauffahren können. Sie ist wohl gestern gestorben, höchstens vorgestern. Steif wie ein Baum.«
»Eine Gruppe Soldaten hat sie gefunden, beim Wachgang an der Mauer, Höhe Hundegasse.«
Rungholt nickte. Nicht weit von dort hatte er seine Brauerei. »Erschlagen wurde die Magd nicht. Es gibt auch keine Einstichwunden und keine Brüche, soweit ich das fühlen kann. Keine Würgemale.« Er wollte hier so schnell wie möglich weg. Nicht nur wegen all der Toten – vor allem wegen seines Himmelbetts, das mittlerweile sicherlich aus dem Schlafzimmer gespült worden und die Diele hinabgetrieben war. Bei dem Gedanken, sein Haus unter Wasser vorzufinden, richtete er ein Stoßgebet gen Himmel. Lass Contz bloß die Felle aufgespannt haben.
»Was bedeutet das?«, riss ihn Dartzow ins Hier und Jetzt.
»An ihr sind keine Spuren von Gewalt. Natürlicher Tod.« Rungholt zog ihr die Leinentunika hoch. Er sah sich ihre Arme an. Der linke war leicht zerkratzt, und auch der rechte wies einige Spuren auf. Nichts Ungewöhnliches. Zwei, drei dunkelblaue Linien konnte er erkennen. Schmale Blutergüsse, nicht breiter als ein Griffel und von den Leichenflecken beinahe überdeckt. »Natürlicher Tod. Ich bleibe dabei.«
Der Bürgermeister seufzte. »Aber sie ist doch noch jung. Sie kann doch nicht einfach so gestorben sein.« Es klang auf beunruhigende Art verzweifelt.
Rungholt schlug das Leichentuch wieder über ihr Gesicht. Freiwillig war er nicht hergekommen, der Bürgermeister hatte um Hilfe gebeten. Seitdem Herman Kerkring wieder Rychtevoghede war, wusste Rungholt gern einflussreiche Ratsmitglieder auf seiner Seite. Also war er der Bitte nachgekommen und bei diesem Schietwetter mit dem Bürgermeister den Koberg hinaufgeeilt.
Aber er hatte keine Zeit und vor allem keine Lust, dem zweiten Bürgermeister Lübecks seine Schlussfolgerungen haarklein zu erklären. Es war
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