Föhn mich nicht zu
ich tauglich bin?»
«Das sehen wir noch. Kommen Sie in vier Wochen wieder! Und geben Sie eine neue Urinprobe ab! Wenn die Leukozyten dann weg
sind – wovon ich ausgehe – und Sie bis dahin nicht vergessen haben, wo sich Urin bildet, dürfen Sie Ihr Referendariat in Angriff
nehmen.»
Ob die Ärztin die Drohung ernst meinte, wusste ich nicht. Auf jeden Fall hatte sie sie überzeugend vorgetragen. Und sehr wirkungsvoll,
denn meine daraus resultierende Anspannung führte |24| dazu, dass mir die Herkunft von Urin bereits auf dem Nachhauseweg wieder entfiel. Für die nächste Untersuchung würde ich besser
lernen. Und vielleicht sollte ich Frau Dr. Jost bitten, mir eine Befreiung für Wandertage auszustellen, bei denen man sich als Lehrer ausziehen musste.
Lehrerzimmer, Montag, erste Hofpause
Ich: Sind Sie Frau Herz?
Frau Herz: Ja.
Ich: Ich bin Stephan Serin, der neue Referendar. Herr Stern 1 meinte zu mir, dass Sie die mir zugeordnete Lehrerin für Geschichte sind. Dass Sie mich ein bisschen einweisen. Dass ich mich
bei Fragen an Sie wenden kann.
Frau Herz: Ich sag Ihnen gleich: Ich hab nicht viel Zeit. Herr Stern hat mich nicht gefragt. Ich kann Ihnen gerne Materialien ausleihen.
Aber erwarten Sie nicht, dass ich mich jetzt hier um Sie kümmere.
|25| 3
Isch bin Bus
Ich kam an die Werner-Heisenberg-Schule in der Brunnenstraße im Stadtbezirk Berlin-Mitte. Als ich dort mein Referendariat
aufnahm, schockte mich neben dem Mangel an Disziplin auch die fehlende Sprachkompetenz meiner Schüler. Ich hatte mich selbst
nie für besonders sprachbegabt gehalten, aber im Klassenraum wurde ich mit meinen fehlerfreien Hauptsätzen zu einem lexikalischen
und syntaktischen Genie. Wenn ich hingegen den Schülern in der Pause beim Sprechen zuhörte, dröhnten mir sofort die Ohren:
«Musstu Alexa, ja?»
«Isch Alexa, wallah.»
«Ischauch.»
«Hast du U-Bahn ?»
«Hab Bus!»
«Binisch auch Bus.»
«Weißdu gestern?»
«Nee, weiß nisch.»
«Musstu wissen gestern.»
«Isch?»
«Musstu wissen.»
«Was?»
«Gestern. Isch bin U-Bahn . Isch kein Fahrschein. Isch gefickt von Kontrolleur.»
«Escht? Tschüüüsch! Musstu schlagen, Kontrolleur.»
«Nee, nisch schlagen. Kontrolleur Frau.»
«Escht schwul, die Muschi!»
|26| In der ersten Zeit stellte ich mir oft die Frage, welche Gespräche man als Lehrer hörte, wenn man nicht wie ich auf einem
Gymnasium unterrichtete. Vielleicht ließen die Schüler an Haupt- und Realschulen Verben und Personalpronomen gänzlich weg
und gebrauchten nur noch Nomen.
Der Pausenjargon der Jugendlichen war das eine, aber in den Stunden machte ich keine anderen Erfahrungen. Mir bereitete die
Sprache der Schüler fast körperliche Schmerzen, denn ich war von meinen Eltern früh dazu erzogen worden, auf meine Ausdrucksweise
zu achten. Bereits als Erstklässler musste ich vor ihnen jeden Samstag einen Kurzvortrag zu einem Thema halten, das ich erst
zwei Tage zuvor erfuhr, oftmals zu Gegenständen, anhand derer sich die Überlegenheit des Kommunismus nachweisen und der Untergang
des Kapitalismus prophezeien ließ. Und schon zu Kindergartenzeiten wurde ich gemaßregelt, sobald ich mich schlampig ausdrückte.
Fragte ich am Abendbrottisch: «Kann ich mal bitte Milch?», statt vorschriftsmäßig: «Kann ich mal bitte die Milch haben?»,
so schlug mir mein Vater zur Strafe mit der Gabel auf die Finger. Man mag das für grausam halten, aber in der DDR der achtziger
Jahre waren solche Züchtigungen an der Tagesordnung. Nur so war es möglich, dass im friedliebenden Teil Deutschlands bis zum
bitteren Ende auf höchstem Niveau Konversation betrieben wurde – während auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs die deutsche
Sprache bereits in tiefer Agonie lag. DD R-Bürgern wäre es beispielsweise nie eingefallen, elliptische Satzstrukturen zu gebrauchen. Selbst für die Bekanntgabe einer Telefonnummer
arbeiteten wir mit Para- und Hypotaxe: «Zuerst hebst du den Hörer ab. Im Anschluss daran steckst du den Zeigefinger in das
Loch mit der Nummer 4 der Fingerlochscheibe. Durch eine anschließende Rechtsdrehung bis zum Fingeranschlag spannst du die
Rückdrehfeder bis zum Anschlag. Nachdem dies erfolgt ist, verlässt der Finger das Loch, sodass die |27| Fingerlochscheibe linksdrehend durch die Rückdrehfeder wieder in ihre Ausgangslage gebracht wird. Nun, ohne den Hörer wieder
aufzulegen, steckst du deinen Zeigefinger erneut in das Loch mit der Nummer 4.
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