T Tödliche Spur: Thriller (German Edition)
Prolog
W ieder dieser Traum.
Es ist ein grauer, nebelverhangener Tag, und ich bin in der Küche, telefoniere mit jemandem … Dieser Teil ist übrigens jedes Mal anders. Mal spreche ich mit meinem Ehemann Wyatt, dann mit Tanya und manchmal auch mit meiner Mutter, obwohl sie schon lange, lange tot ist. Aber so ist das nun mal.
Aus dem Wohnzimmer, das hier in diesem Haus an die Küche grenzt, höre ich den Fernseher. Ein Zeichentrickfilm läuft, und ich weiß, dass Noah auf dem Teppich vor dem Flachbildschirm mit seinem Spielzeug beschäftigt ist.
Ich habe Brot gebacken, die Küche ist noch warm vom Ofen, und ich denke an Thanksgiving. Als ich aus dem Fenster blicke, stelle ich fest, dass es draußen schon fast dunkel ist, die Abenddämmerung senkt sich herab. Es muss kalt sein, die Bäume zittern im Wind, ein paar störrische Blätter hängen noch an den dünnen, skelettartigen Zweigen. Auf der anderen Seite der Bucht sehe ich die Stadt Anchorville, verschleiert vom Nebel.
Hier drinnen, in dem alten Herrenhaus, das mein Ururgroßvater erbaut hat, ist es gemütlich.
Sicher.
Es duftet nach Zimt und Muskat.
Plötzlich bemerke ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung vor dem Küchenfenster. Es ist sicher Milo, unser Kater, denke ich, doch dann fällt mir ein, dass Milo, eine prächtige Tigerkatze, tot ist, und zwar schon seit Jahren.
Auf einmal wird mir mulmig zumute. Ich kneife die Augen zusammen und versuche, durch den immer dichter werdenden Nebel, der vom Meer heraufzieht, etwas zu erkennen. Ich
weiß,
dass da draußen etwas ist, im Garten, hinter der Rosenhecke, wo die windzerzausten Sträucher stehen.
Quiiieeetsch!
Ein Schatten huscht an der Veranda vorbei. Ich bekomme eine Gänsehaut.
Für den Bruchteil einer Sekunde fürchte ich, dass etwas Böses hinter den pfeilförmigen Spitzen des schmiedeeisernen Zauns lauert, der das Grundstück umgibt.
Quiiieeetsch! Wumm!
Das Tor fliegt auf und schwingt im stürmischen Wind hin und her.
In diesem Augenblick fällt mein Blick auf Noah, meinen Sohn, mit seinem kleinen Kapuzenpullover und den hochgekrempelten Jeans. Er hat sich aus dem Haus gestohlen und spaziert durch das offene Tor aus dem Garten. Fröhlich hüpft er durch die Dämmerung Richtung Anleger, als würde er hinter irgendetwas herjagen, dem Hund oder einem Eichhörnchen vielleicht.
»Nein!«
Ich lasse den Hörer fallen.
Wie in Zeitlupe prallt er gegen mein Wasserglas, dessen Inhalt sich über die Küchenanrichte ergießt.
Ich wirbele herum, bestimmt habe ich mich getäuscht und er sitzt noch auf dem Teppich vor dem Fernseher … Nein, das Wohnzimmer ist leer, über den Bildschirm flackert irgendein Disneyfilm,
Aladin,
glaube ich.
»Noah!«, schreie ich aus voller Lunge und wende mich wieder Richtung Küche.
Ich trage ein Nachthemd, und meine Füße fühlen sich an, als steckten sie in Treibsand fest, ich komme nicht schnell genug von der Stelle. Aus den Fenstern, die auf die Bucht blicken, sehe ich, wie der Kleine durch die aufziehende Dunkelheit läuft und sich mehr und mehr dem Wasser nähert.
Ich poche mit der Faust gegen eins der alten Fenster.
Die Scheibe zerspringt.
Glassplitter fliegen durch die Luft.
Blut spritzt.
»Noah!«
Er hört mich nicht. Ich versuche, die Glastür zur Veranda zu öffnen, doch sie lässt sich nicht bewegen. Nicht mal ein winziges Stückchen. Blut läuft an der Scheibe hinab.
Ich quäle mich in Zeitlupe durchs Zimmer, den Gang entlang, rufe nach meinem Sohn, nach Wyatt, bis ich endlich die Haustür erreiche. Sie ist unverschlossen, ein Türflügel schwingt mit einem lauten Ächzen auf. Jetzt stehe ich auf der Vortreppe. »Noah!«
Ich weine. Schluchze. Panik steigt in mir auf, und beinahe wäre ich auf den feuchten Stufen ausgerutscht. Ich laufe an tropfnassen Rhododendren und sturmgepeitschten Kiefern vorbei, die überall auf dieser gottverlassenen Insel stehen, die Insel, die mir für den Großteil meines Lebens ein Zuhause war. »Noah!«, rufe ich wieder, doch meine Stimme geht im Tosen der See unter. Ich kann meinen Jungen nicht mehr sehen, er ist hinter den verwelkten Rosensträuchern verschwunden, als habe ihn der tiefhängende Nebel verschluckt.
Bitte, lieber Gott, mach, dass ihm nichts zustößt!
Die kühle Luft des Pazifiks lässt mich frösteln, doch das ist nichts, verglichen mit der Kälte, die ich in meinem Herzen empfinde. Ich renne den mit Austern- und Venusmuschelschalen bestreuten Weg entlang, die scharfen Kanten schneiden mir in die
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