Föhnfieber: Kriminalroman (German Edition)
ich klein war, jetzt steht sie
schief da, ich bin ihr missraten. Das freut mich, was ich natürlich nicht zeige.
Nein, wenn ich schon nicht zu den anderen passe, will ich auch nicht sein wie sie.
Ich ziehe mich auch nicht demonstrativ schwarz an, das wäre eine kindisch pubertäre
Trotzhaltung. Schwarz ist extrem hässlich. Ich ziehe einfach immer dasselbe an,
unauffällig, Jeans und Shirt und Pullover, aber in weichen Farben. Wilmas teures
Zeug bleibt liegen, außer ich muss. Das Reden und Lachen ist mir vergangen, denn
was ich aussende, verschwindet irgendwo, löst sich auf, da ist nichts als eine zerstäubende
Welle. Ich weigere mich, mich als in einer pubertären Depression befindlich klassifizieren
zu lassen. Ich weigere mich, mich bei einem Therapeuten auszusprechen. Ich bin anders,
ich bin ich, ich kreise zwar um mich, doch ich bin nicht wichtig, es geht um das,
von dem ich spüre, dass es irgendwo ist, um eine Welt außerhalb. Doch davon rede
ich nicht, ich weiß, wie Wilma reagierte.
Das Schuljahr
geht in zehn Wochen zu Ende. Ich werde in ein Internat abgeschoben werden.
Ich habe
mir von meinem reichlichen Taschengeld diese blaue, mit einem Code verschließbare
Ledermappe gekauft, 236 Franken. Ich bin reich, trotzig reich, andere in meiner
Klasse haben das als ihr jährliches Taschengeld. Das kommt von Wilmas permanent
schlechtem Gewissen mir gegenüber. Dazu habe ich mir ein gleichfalls verschließbares
Tagebuch gekauft, also ich nenne es Notebook: Realistin mit verdecktem romantischem
Einschlag, total Retro.
Ich weiß
genau, was wir in Deutsch gelernt haben und lernen. Aber ich zeige mein Interesse
nicht. Ich werde auch nicht in Naturbeschreibungen abdriften. Eher werde ich ab
und zu zeichnen. Zeichnen heißt nicht malen.
Wilma ist tüchtig, gepflegt, möglicherweise
gescheit, meine Stiefmutter eben. Sie meint, mich zu einer Golfclub Lady erziehen
zu müssen, und weil sie immer die Stärkere ist, widerspreche ich kaum. Ich bin mit
Widerstand durchtränkt, dermaßen vollgesogen, dass nichts durchdringen kann. Ich
sage mir, ich gleiche meiner Mama, die ich nie gekannt hatte, wie sie auch mich
nicht. Immer bei mir. Irgendeinen Halt braucht jeder Mensch, ich finde ihn eben
bei einer Toten. Ab und zu meine ich, einen Duft nach Maiglöckchen zu riechen, mich
bloß ein ganz klein wenig nach hinten neigen zu müssen, und sie schlösse mich wolkig
in ihre Arme. Ich bin, wie sie es war. Sensitiv nennt man das heute, hochsensitiv
vielleicht, ich habe das gegoogelt. Den Begriff hüte ich als mein geheimes Wissen,
meinen Schatz. Es verbindet mich mit ihr. Vielleicht schirme ich mich deshalb ab,
weil ich weiß, sie würden es zerstören. Allein schon durch die Berührung mit ihnen.
Wilma hatte
ihren mütterlichen Ton drauf, bei dem ich hölzern werde wie eine Nuss. Sie ist knochig
mütterlich, das gehört zu ihrer früher knochigen schnabelartigen Nase. Seit sie
sie kürzen ließ, eine Wahnsinnssache, sieht sie viel weiblicher aus, doch sie hat
sich ja auch gleich die Augen liften lassen, Haut nach oben zum Haaransatz gezogen
und weggeschnitten, sie schaut jetzt etwas offener. Dazu waren sie und mein Vater
auf einer Kreuzfahrt in der Karibik. Doch wenn ich schaue, ist das alte, harte,
gierige Gesicht noch immer da. Ich bin gespannt, wie weit es die Korrektur wieder
löschen wird. So ein verändertes Gesicht ist eine Lüge. Warum tut sie das? Sie müsste
meinen Vater hassen, weil sie dermaßen von ihm abhängig ist. Möglicherweise ist
es eine Art, ihn zu beherrschen. Möglicherweise bin ich nur anders und meine, das
sei kein Glück. Bald erwachsen zu sein. Durch meine nicht vorhandene Schulleistung
beschleunige ich mein Weggehen. Ich werde mich nicht umsehen. Und Ciao und weg.
Vielleicht möchte ich auf einer Alp leben, in Matten und nah am Himmel. Möglicherweise
würde mir mein PC dort fehlen.
Mit ihrer Fürsorglichkeit, was Kleider,
Essen, Freizeit, Schule, Freunde betrifft, versucht Wilma doch nur, sich bei mir
einzuschmeicheln, mich zu beherrschen. Sie ist ehrgeizig und hart. Sie ist die sehr
junge Frau meines Vaters, des Baulöwen. Sie würde, wie er, über Leichen gehen. Anschließend
würde sie vielleicht ihr Bedauern ausdrücken, ladylike, und den Fuß draufsetzen.
Sie lebt
die praktische Seite des Katholischen, du gehst beichten, und alles ist ausgelöscht,
gar nichts hast du getan, mit ein paar Gegrüßt-seist-du-Maria kannst du dich freikaufen.
Ich gehe nur noch an den offiziellen Feiertagen
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