Folge dem weißen Kaninchen
zurück war ich vorbereitet, doch es half mir nichts. Der Reflex war schlagartig wieder da. Als ein Pfleger mich sah, fragte er besorgt, ob es mir gutgehe. Mein Ekel hatte also mindestens drei Funktionen. Er beeinflusste mein Verhalten. Er informierte mich automatisch über meine Umwelt, noch bevor ich darüber nachdenken konnte. Und er deutete durch den Gesichtsausdruck anderen an, dass hier etwas nicht ganz koscher war. Gefühle erfüllen mindestens diese drei Funktionen: Sie sind ein automatisches Verhaltens-, Informations- und Kommunikationssystem.
Einige Beispiele für die Verhaltenssteuerung: Wut lässt das Blut in die Arme und in den Kopf schießen. Wir bekommen buchstäblich einen dicken Hals, ein knallrotes Gesicht und haben das Gefühl, dass uns der Kragen platzt. Nirgendwo ist das besser dargestellt als in den alten Zeichentrickfilmen mit
Bugs Bunny
, wenn seine Gegenspieler vor Wut in die Luft gehen. Wie andere Affenarten blähen wir manchmal zornig unsere Nüstern auf. Das könnte den Sauerstofffluss zum Gehirn erhöhen. Zusammen mit den durchbluteten Armen ist das ein klarer Vorteil im Kampf. Ekel hingegen lässt uns vor verdorbenem Essen zurückschrecken oder führt im Extremfall zum Erbrechen. Auch dieses Verhalten ist ein Vorteil, denn es verhindert, dass Bakterien in unseren Körper gelangen. Gefühle motivieren uns außerdem zu Handlungen. Angst, Zorn und Ekel funktionieren direkt: Wir wollen fliehen, kämpfen oder uns abwenden. Andere Gefühle motivieren uns indirekt. Scham und Trauer erleben wir als unangenehm, also versuchen wir, sie zu vermeiden. Von Freude hingegen kann man nie genug haben, also versuchen wir alles, um uns zu amüsieren.
Auch unser emotionales Gedächtnis beeinflusst unser Verhalten. Der Körpertheoretiker Damasio nimmt nicht nur an, dass es unbewusste Gefühle gibt, sondern hat auch einen berühmten Gedächtnistest durchgeführt. Er untersuchte Patienten, die sich nach Unfällen keine neuen Informationen merken konnten, also an einer sogenannten
anterograden Amnesie
litten. Für sie ist jeder Tag wie der erste Tag nach ihrem Unfall. Die Hauptfigur aus Christopher Nolans Film
Memento
aus dem Jahr 2000 ist ein eindrückliches Beispiel für diese Gedächtnisstörung: Weil sich die Hauptfigur nichts Neues merken kann, lässt sie sich wichtige Informationen auf ihren Körper tätowieren.
Damasio führte mit den Amnesie-Patienten ein Guter-Arzt-Böser-Arzt-Experiment durch. Einer der beiden Versuchsleiter war herzlich zu den Patienten und erfüllte all ihre Wünsche, während der andere sie schon bei der Begrüßung in die Hand piekste oder ihnen langweilige Aufgaben erteilte. Am nächsten Tag konnten sich die Patienten weder an die Ärzte noch an die Erlebnisse erinnern. Doch wenn sie gefragt wurden, wer von den beiden ihr Freund sei, wählten sie fast immer den «guten» Arzt und nicht den «bösen». Dabei ließen sie sich offensichtlich von ihrem Bauchgefühl leiten. Unsere Erlebnisse hinterlassen also Spuren in unserem emotionalen Gedächtnis, die selbst dann unser Handeln leiten, wenn wir gar nicht mehr wissen, warum.
Wenn wir uns auf unser Bauchgefühl verlassen, können wir viel über uns und unsere Umwelt erfahren. Das ist die zweite Funktion von Gefühlen: Sie sind ein Informations- oder Frühwarnsystem. Wie uns Lust auf Schokolade Unterzuckerung anzeigt und Schmerz eine Verletzung, so zeigen auch Gefühle potenzielle Belohnungen oder Bedrohungen an. Als ich mich vor dem vergammelten Fleisch ekelte, musste ich nicht lange überlegen, ob es giftig ist, denn diese Einschätzung hat mein Körper für mich vorgenommen. Ein Versuch dazu: Würden Sie aus einem Glas Wasser trinken, in das Sie kurz zuvor gespuckt haben? Vermutlich nicht. Damit sind Sie nicht allein. Die meisten Menschen ekeln sich vor ihrem eigenen Speichel, sobald er den Körper verlassen hat. Auf den ersten Blick ist das eigenartig, immerhin war der Speichel ja noch Sekunden zuvor im eigenen Mund. Doch die meisten unserer Ausscheidungen enthalten Keime, so könnte es von Vorteil sein, sich vor dem zu ekeln, was aus dem Körper herauskommt wie zum Beispiel Blut, Kot, Eiter, Schweiß, Ohrenschmalz und eben auch Speichel, selbst wenn der eher ungefährlich ist. Der Ekel warnt uns so vor Keimen.
Aber nicht nur das. Andere Menschen können uns den Ekel vom Gesicht ablesen. Sie wissen dann, dass das Essen verdorben ist, ohne es selbst probieren zu müssen. Gefühle haben also auch diese dritte Funktion:
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