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Folge dem weißen Kaninchen

Folge dem weißen Kaninchen

Titel: Folge dem weißen Kaninchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Hübl
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überprüfen, ob Gefühle universell sind. Das kam fast einer Provokation gleich, denn damals beherrschte der
soziale Konstruktivismus
die akademische Welt. Diesem Ansatz zufolge sind Gefühle «soziale Konstrukte», die nicht angeboren sind und dementsprechend zwischen Kulturen und Epochen stark schwanken. Noch heute ist «angeboren» vor allem unter Kulturwissenschaftlern ein Reizwort: Auf einigen Konferenzen wird man ausgebuht oder als «Proto-Faschist» bezeichnet, wenn man es nur in den Mund nimmt. Wer angeborene Eigenschaften propagiert, steht unter dem Generalverdacht, damit gesellschaftliche Missstände rechtfertigen zu wollen, oder gar Schlimmeres. Dennoch war die Frage nach angeborenen Eigenschaften schon immer eine Tatsachenfrage und nicht eine der politischen Korrektheit.
     
    Ekmans Projekt war also eine Provokation, während seine Idee ganz einfach war. Im Anschluss an Darwins Untersuchungen zeigte er Menschen verschiedener Kulturen Fotos mit den Gesichtsausdrücken bestimmter Gefühle. Ordnen Versuchspersonen diese unabhängig von ihrer Kultur richtig zu, hat man einen starken Hinweis darauf, dass Gefühle angeboren sind. Dazu reiste Ekman zu den Fore nach Papua-Neuguinea, die damals kaum Kontakt mit anderen Zivilisationen hatten und in seinen Worten wie «Steinzeitmenschen» lebten. Die Fore waren oft nur mit Grasröcken bekleidet, und sie kannten keine Kameras. Ekman zeigte ihnen Fotos der westlichen Gesichtsausdrücke von Angst, Trauer, Ekel, Freude, Überraschung und Wut, die sie allesamt ohne Probleme identifizierten. Dann erzählte Ekman den Fore dramatische Geschichten und fotografierte dabei ihr Mienenspiel. Zurück in San Francisco, kam er zu dem Ergebnis: Amerikaner können die Gefühlsausdrücke der Fore ebenso klar zuordnen.
    Ekman und andere Wissenschaftler haben diese Pionierarbeit systematisch ausgedehnt. Inzwischen gehen fast alle von angeborenen
Grundgefühlen
aus. Die Forscher streiten sich bloß um die genaue Anzahl. Ekman hielt es lange mit den oben genannten sechs. Inzwischen nimmt er an, dass alle Gefühle grundlegend sind. Seine vorläufige Liste: Freude, Wut, Verachtung, Zufriedenheit, Ekel, Scham, Peinlichkeit, Aufregung, Angst, Schuld, Stolz, Entspannung, Traurigkeit, Erfüllung und sinnliches Vergnügen. Nur die Überraschung sieht er nicht mehr als ein Gefühl an. Alle anderen Affekte sind Ekman zufolge nur Spielarten oder Kombinationen dieser grundlegenden Gefühle.
    Neben dem weltweit gleichen Gesichtsausdruck finden sich noch weitere Hinweise: Blind Geborene haben dieselbe emotionale Mimik wie sehende Menschen. Wie aber sollten sie die gelernt haben? Nicht nur der Gesichtsausdruck, auch die Auslöser unserer Gefühle sind gut untersucht. Der schwedische Psychologe Arne Öhman fand heraus, dass Kleinkinder auf Bildern Schlangen schneller im Gras erkennen als Salamander, selbst wenn sie Schlangen noch nie zuvor gesehen haben. Das spricht dafür, dass der Begriff, also die mentale Kategorie «Schlange», angeboren ist. Außerdem hat Öhman in einem Versuch Affen sowohl Blumen als auch Schlangen gezeigt und ihnen dabei jeweils einen kleinen elektrischen Schlag verpasst. Schon bald hatten die Affen auch dann Angst, wenn sie bloß die Blumen oder Schlangen erblickten. Bei den Blumen verflüchtigte sich der Effekt schnell wieder, bei den Schlangen hielt er jedoch an. Jeder Reiz kann also im Prinzip Angst auslösen, aber bei einigen wie den Schlangen ist das Affen- und auch das Menschenhirn schon vorbereitet: Es wartet sozusagen nur auf den richtigen Auslöser.
    Gefühle äußern sich in typischen Gesichtsausdrücken und haben alle Auslöser vom selben Typ. Auch die neuronalen Schaltkreise sind dieselben: Im
limbischen System
unseres Hirns entsteht unsere Angst genauso wie bei Tauben, Katzen oder Ratten. Zusammen genommen deutet das darauf hin, dass unsere Gefühle angeboren sind. Evolutionspsychologen vermuten, dass Angst schon bei den ersten Wirbeltieren vor rund 500  Millionen Jahren zu finden war. Aber welche Funktion hatten Angst und andere Gefühle dann im Überlebenskampf?

Überleben der Gefühlvollsten
    Mit sechzehn Jahren habe ich im Sommer in einem Altenheim gearbeitet. Einmal musste ich am Hinterausgang der Küche entlang in den Keller gehen. Als ich an den Abfalltonnen vorbeilief, überkam mich plötzlich ein Brechreiz, ohne dass ich wusste, warum. Erst dann wurde mir klar, dass in einer Tonne Fleischreste lagen. Und es war ein wirklich heißer Tag. Auf dem Weg

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