Folge dem weißen Kaninchen
Unser Gesichtsausdruck und unsere Körpersprache teilen anderen ganz automatisch mit, wie wir uns fühlen. Viele Theorien haben diesen Aspekt bisher vernachlässigt. Dabei scheint es offensichtlich, dass Gefühle nicht nur uns selbst informieren. Unsere Traurigkeit muss uns nicht mitteilen, dass wir jemanden verloren haben, der uns am Herzen lag. Das wissen wir ja schon. Traurigkeit sagt aber anderen etwas über uns. Das Baby weint, wenn die Mutter weg ist, und signalisiert ihr so, dass sie wiederkommen soll. In der Herde oder Gruppe könnte Trauer anzeigen, dass man Hilfe, Fürsorge und Schutz braucht, besonders weil Tränen offenbar keine eigene Körperfunktion haben: Bei vielen Säugetieren hält die Tränenflüssigkeit zwar die Augen feucht, aber nur der Mensch weint, wenn er traurig ist.
Einige Psychologen vermuten zwar, dass wir so Spannungen abbauen, da wir mit den Tränen Stresshormone ausscheiden und uns nach dem Weinen erleichtert fühlen. Wahrscheinlicher ist aber, dass Tränen vor allem ein Signal der Hilfsbedürftigkeit sind. Sie haben sich wohl im evolutionären Duett mit unserer Fähigkeit entwickelt, sie auch so zu deuten. Unser Lachen hat ebenfalls keine sichtbare Funktion für unser Handeln oder unsere Selbstkenntnis. Es zeigt aber anderen, wie wir uns fühlen. Wichtig für die emotionale Kommunikation ist, dass die Signale aufrichtig sind, wir sie also, wie Tränen und Lachen, schwer fälschen können. Menschen sind auf Zusammenarbeit angewiesen. Indem wir andere täuschen, können wir zwar ihre Gutgläubigkeit zu unserem Vorteil nutzen, sie unsere umgekehrt aber auch. Wenn jeder immer unehrlich und argwöhnisch wäre, käme keine Zusammenarbeit zustande. Daher zahlen sich Aufrichtigkeit und Durchschaubarkeit auf Dauer aus, wie viele Experimente zur menschlichen Kooperation zeigen.
Die drei Funktionen haben sich vermutlich in folgender Reihenfolge entwickelt: Am Anfang war nur das Verhalten, zum Beispiel der Brechreiz. Dann lernten unsere Vorfahren, den Verhaltensausdruck anderer als Signal zu deuten: Wer die Muskeln neben der Nase hochzieht, ekelt sich. Als die Menschen schließlich denken konnten, haben sie buchstäblich Informationen aus ihren Gefühlen erhalten. Nur wir wissen, dass unser Essen verdorben ist und Keime enthält. Affen wenden sich einfach nur ab. Wer Gefühle hatte, überlebte eher in der Wildnis und in der Gruppe. Und wer sie zeigen konnte, hatte noch bessere Chancen.
Empathie: Gefühle lesen
Ein einfacher Zeichentrickfilm, in dem sich ein kleines und ein großes Dreieck und ein kleiner Kreis hin und her bewegen: Diesen Film zeigten die österreichischen Psychologen Fritz Heider und Marianne Simmel im Jahr 1944 ihren Versuchspersonen und baten sie, die Ereignisse zu beschreiben. Zur ihrer Überraschung behandelten die Versuchspersonen die geometrischen Figuren wie Menschen. Sie sagten Dinge wie: «Der kleine Kreis und das kleine Dreieck sind verliebt», oder: «Der Kreis hat Angst vor dem großen Dreieck», als ob die Figuren tatsächlich Gefühle hätten. Wer den Film sieht, kann sich dieser Suggestion nicht entziehen. Die Fähigkeit, uns in andere einzufühlen und hineinzudenken, nennen Forscher «mind reading», also das
Gedankenlesen
. Damit ist nicht Telepathie gemeint, sondern unsere angeborene Gabe, nur am Verhalten anderer zu erkennen, was sie denken, fühlen und beabsichtigen. Wir sind darin so gut, dass wir überall menschliche Neigungen erkennen, auch dort, wo gar keine Menschen sind. Ein Grund vielleicht, warum es schon Kindern leichtfällt, sich sprechende und denkende Steine, Bäume oder Tiere vorzustellen.
Im Heider-Simmel-Experiment hatten weder die Dreiecke noch der Kreis Gesichtszüge. Neben den Körperbewegungen erhalten wir vor allem aus der Mimik anderer Menschen Informationen, die wir ganz automatisch verarbeiten. Das sieht man am besten im Kontrast zu Patienten, die darin Defizite haben. Autisten zum Beispiel können Gesichtsausdrücke oft nicht voneinander unterscheiden. Gesunde Menschen sehen sofort, ob jemand wütend oder nur überrascht ist. Für Autisten ist das eine schier unlösbare Aufgabe. Patienten, die an einer schwachen Autismusform, dem
Asperger-Syndrom
, leiden, legen sich daher Hilfsregeln zurecht, beispielsweise: «Wenn ich jemandem den Parkplatz wegschnappe, dann ist er eher wütend als überrascht.» Manche werden darin so gut, dass sie im Alltag gar nicht auffallen. Das gilt ebenso für Menschen mit
dissozialer
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