Folge dem weißen Kaninchen
Mittlerweile hält er zwar Verachtung für ein eigenständiges Gefühl, aber man könnte auch behaupten, dass es ein Mischgefühl ist. Sind Ekel und Wut angeboren, so ist es Verachtung auch. Der amerikanische Evolutionspsychologe Robert Plutchik vertritt diesen Ansatz. Nach dem Vorbild des Farbkreises hat er einen Gefühlskreis entworfen. Genau, wie es Mischfarben gibt, so existierten auch Mischgefühle. Laut Plutchik sind Scheu ein Mix aus Angst und Überraschung und Gewissensbisse eine Kombination aus Trauer und Ekel. Die Idee ist faszinierend, die konkreten Hypothesen aber wenig überzeugend. Man kann ein schlechtes Gewissen haben, ohne sich vor sich selbst zu ekeln. Wer Gewissensbisse hat, bedauert seine Tat, muss aber nicht unbedingt traurig sein.
Die dritte Möglichkeit ist die wahrscheinlichste: Soziale Gefühle könnten sich von Grundgefühlen darin unterscheiden, dass ihr Verhaltensausdruck kulturabhängiger ist. So wie jedes Kind mit einer angeborenen
Sprachfähigkeit
zur Welt kommt, mit der es Deutsch oder Japanisch lernen kann, ist es auch mit einer Gefühlsfähigkeit ausgestattet. Der Verhaltensinput kann zwischen Kichern und Zu-Boden-Schauen schwanken, genau wie die Wörter oder der Satzbau des Deutschen und Japanischen variieren. Kinder lernen so verschiedene Ausdrücke der Gefühle, denen aber dieselbe «Grammatik» zugrunde liegt. Während die stammesgeschichtlich alten Gefühle wie Angst, Wut oder Ekel sehr konstant sind, schwanken die jüngeren sozialen Gefühle wie Scham oder Neid stärker in ihrem Ausdruck. Die vielen Gefühlswörter bezeichnen dann eher Mitglieder von Gefühlsfamilien. Wut hat viele Spielarten: Zorn, Ärger, Aggression, Gereiztheit, Empörung und Rachsucht. Ebenso Angst: Panik, Nervenkitzel, Aufregung, Spannung, Lampenfieber, Schrecken und Nervosität. Im Kern fühlen sich alle gleich an, und sie haben auch dasselbe Kernthema, aber Ursachen, Einschätzungen und die Intensität des Erlebens mögen sich in Nuancen unterscheiden. Gilt das auch für das sozialste aller Gefühle, die Liebe?
Wer hat die Liebe erfunden?
Der Ritter wirbt um die Edelfrau, die für ihn unerreichbar ist. Er dichtet für sie, singt unter ihrem Balkon und schwört ihr ewige Treue. Doch die romantische Liebe bleibt meistens unerfüllt. War das nicht schon immer so? Der irische Literaturwissenschaftler C. S. Lewis, der als Autor der
Chroniken von Narnia
weltweit bekannt wurde, vertrat in den dreißiger Jahren die These, dass die romantische Liebe eine Erfindung des Mittelalters sei. In älteren Werken der Literatur, bei Homer und Vergil, würde nie davon berichtet, wie sich die Menschen verlieben. Im Mittelalter sei dann alles anders. Viele Kulturwissenschaftler, die Gefühle für soziale Konstrukte halten, haben diesen Grundgedanken wiederaufgenommen. Ihnen zufolge ist der mittelalterliche Minnesang in die Balzrituale der westlichen Welt gesickert. Noch heute schrieben Männer schwärmerische SMS und verschenkten MP 3 -Playlists als Liebespfand. Und noch heute hätten wir eine kulturell vermittelte Vorstellung davon, was echte Liebe ist. Der französische Schriftsteller François de La Rochefoucauld ist für den Ausspruch bekannt: «Es gibt Menschen, die nie verliebt gewesen wären, wenn sie nie von der Liebe hätten sprechen hören.» Die sozialen Konstruktivisten nehmen diesen Aphorismus wörtlich und verallgemeinern ihn: Wir hätten keine Gefühle, wenn wir sie nicht zuvor in unserer Kultur beobachtet hätten.
Zuerst: Ist Liebe überhaupt ein Gefühl? Gefühle erleben wir typischerweise bewusst, und sie halten meist nur wenige Minuten an. Liebe und Verliebtsein erleben wir ebenfalls, aber sie sind eher
emotionale Episoden
, in denen auch andere Gefühle auftauchen. Wir spüren die Liebe in Form von Sehnsucht, Lust, Wohlbefinden und Geborgenheit, wenn wir mit unseren Liebsten zusammen sind oder an sie denken, aber wir lieben sie auch, wenn wir schlafen oder uns über die Nachbarn ärgern. Eine Liebesepisode kann Wochen, Monate oder Jahre anhalten. Sie macht uns außerdem geneigt, auch andere Gefühle zu haben: sorgenvoll, eifersüchtig, enttäuscht oder glücklich zu sein. Verliebtsein färbt zwar auch unsere Grundstimmung: Wir sind wie in einem Rausch, weil unser Hirn die Stimmungsmacher Dopamin und Serotonin und später das Wohlfühlhormon Oxytocin ausschüttet. Aber dieser Aufruhr verwandelt sich bald in ein kaum vernehmbares Hintergrundrauschen. Liebe und Verliebtsein sind also episodische
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