Forellenquintett
aus. Vorsichtig lehnte er sich gegen die Rückwand, zum Glück war sie massiv und stabil genug, dass sie nicht nachgab.
Ganz ruhig bleiben, sagte er sich, du kippst jetzt nicht um, es gibt keinen Grund dazu, du bist in einem Beichtstuhl, warum auch nicht? Man muss alles einmal gesehen haben im Leben. Hauptsache, du hast alles im Griff, und niemand will etwas von dir, kein Hoch- und kein Merkwürden und auch sonst kein Pope, und wäre einer da, du hättest nichts zu beichten, das da unten bist du nicht gewesen, und sonst? Nichts, Hochwürden, gar nichts, auch nicht mit Tabea, mit der schon lange nicht mehr, mit mir knallt es nicht, verstehen Sie? Deswegen hat sie mich doch rausgeschmissen, oder ich hab mich rausschmeißen lassen...
Er fuhr sich über die Stirn. Noch immer fühlte er sich schwach, aber die Übelkeit hatte sich zurückgezogen. Er öffnete die Augen und sah wieder das dunkle vergitterte Fensterchen vor sich, fast war es ihm, als hätte er soeben wahrhaftig zu einem verborgenen Gegenüber gesprochen. Wovon denn?, wies er sich zurecht, und zu wem denn? Nichts ist hinter dem Gitter... Die Tüte lag noch immer auf dem Boden. Vorsichtig, während er sich mit der einen Hand an der Leiste festhielt, die unterhalb des Gitterfensters verlief, kniete er sich nieder und schob die Tüte mit der anderen Hand unter das Brett, so gut es eben ging. Dann zog er sich wieder hoch, wischte sich mit dem Ärmel seiner Jeansjacke das Gesicht ab und wagte es schließlich, die Tür aufzudrücken und den Beichtstuhl zu verlassen.
Niemand achtete auf ihn.
Trotzdem hielt er seinen Kopf gesenkt. Man würde ihm ansehen, dass er soeben fast ohnmächtig geworden wäre. Seit seinem fünften Lebensjahr gab es kaum etwas, das er so sehr verabscheute wie die Gesichter neugieriger Menschen, die sich über einen beugen und so tun, als nähmen sie Anteil.
Am Mittelgang des Kirchenschiffs fiel es ihm ein, sich zum Altar zu wenden und kurz niederzuknien. Als sich gleich darauf das Kirchenportal wieder hinter ihm schloss und er in die Sonne hinaustrat, blieb er einen Augenblick stehen, mit geschlossenen Augen, und bewegte seine Schultern, die sich verspannt anfühlten. Aber zu Anspannung gab es keinen Grund mehr. Was er zu verlieren hatte, hatte er verloren, er war es los und durfte sich also so frei fühlen, wie es die gute alte Janis besungen hatte: »freedom’s just another word for nothing left to loose...«
Jedenfalls konnte er jetzt gehen, wohin er wollte, warum tat er es nicht? Weil er keine Eile hatte, gab er sich die Antwort, oder genauer: Niemand sollte sagen können, er habe es eilig gehabt oder sei aus dieser Kirche gerannt, und so zählte er drei tiefe Atemzüge ab, ehe er die Augen wieder öffnete und bedächtig an den Rabatten vorbei die Straße hinabging und den Weg zurück einschlug.
Vor sich sah er das Schild einer Kawiarnia, in der trübe ein Licht brannte. Keinen Kaffee, dachte er, nicht jetzt, nicht in dieser Phase, und auch keinen Wodka, das schon gar nicht. Aber er könnte einen Tee trinken, vielleicht gab es auch ein Stück Kuchen dort, nicht dass er wirklich Hunger gehabt hätte, er hatte einfach Lust darauf, eine Tasse Tee zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen und aller Welt zu zeigen, dass er keine anderen Sorgen hatte.
Er stieß die Tür zur Kawiarnia auf, über der Theke brannte Licht, in der Küche hörte er jemanden hantieren, sonst schien das Lokal leer. Er betrachtete die Fotografien an den Wänden, sie schienen ihm Erinnerungen an die Zeit zu sein, als die Kohle noch Wohlstand bedeutete oder jedenfalls nicht das nackte Elend und die Depression. An der Wand stand ein Klavier, der schwarze Lack war aufgesprungen, und weil er nicht rufen wollte oder aus sonst einem Grund ging er zu dem Instrument, klappte den Deckel auf und schlug einen Akkord an, wie ging noch einmal » freedom- is just another word...« ?
Das Klavier war fürchterlich verstimmt, außerdem sollte er vom Klavierspielen besser die Finger lassen, hatte Tabea gesagt. »Weißt du« - und ihre Stimme war honigsüß geworden -, »wenn einer gar kein Talent hat und auch noch faul ist, dann sind die Aussichten nicht gerade glänzend...«
Eine hübsche junge Frau erschien, die Augen mit Schminke schwarz umrändert. Sie wollte seine Bestellung aufnehmen, merkte aber sofort, dass er Ausländer war, und sprach ihn auf Englisch an. Auch recht, dachte er und bestellte a cup of tea, darjeeling, please, und bekam heißes Wasser mit einem Teebeutel
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