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Forellenquintett

Titel: Forellenquintett Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Ritzel
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auch die Kassette vor, und die Audrey - denn sie war es, das weißt du so gut wie ich -, und die Audrey also sagt, gib mir die Kassette, gib sie mir sofort...«
    »Warum?«, fragte Marlen.
    »Aus dem gleichen Grund, aus dem sie siebzehn Jahre später auf keinen Fall wollte, dass ihre Mutter oder ihre Tochter die Kassette hören: Sie dachte, Bastian hätte die ganzen Fickgeräusche aufgenommen.«
    Marlen schwieg. Der morgendliche Berufsverkehr war bereits vorbei, und sie kamen zügig voran.
    »Wie ging es weiter?«
    »Audrey vertraute sich zwei ihrer Freundinnen an, und zu dritt lauerten sie dem Bastian nach dem nächsten Klavierunterricht auf. Ein Akt spontaner Solidarität, aber ja doch … Drei halbwüchsige Mädchen werden mit einem einzelnen schmächtigen Jungen mühelos fertig, und so hat er noch versucht, ihnen mit dem Rad davonzufahren, auf dem Uferweg an der Aesche. Aber die Mädchen waren hinter ihm her, und vermutlich war es das, was dieser Hirrlinger gesehen hat und worüber er nicht schweigen wollte, bis ihn deine Tante von der Leiter gestoßen hat, Gott hab sie selig...!«
    »Und die Mädchen haben ihn dann erwischt?«
    »Ja«, sagte Tamar, »das haben sie. Eines von den Mädchen war beim Radsportverein und hat ihn auf der anderen Seite des Flusses überholt und ihm den Weg abgeschnitten. Da saß er nun in der Falle, die Mädchen wollten seinen Walkman, weil sie glaubten, er hätte die Kassette darin, er wehrte sich, sie schubsten ihn, von der einen zur anderen, und eine stieß ihn so, dass er ins Stolpern kam und über die Mauerkante der Mole in die Aesche gestürzt ist. Das Hochwasser riss ihn mit sich und schlug über ihm zusammen. Und so ist er ertrunken.«
    Marlen stellte den Wagen auf einem freien Kurzzeit-Parkplatz ab. »Aber das konnten die Mädchen nicht wissen. Ich meine, dass er ertrunken ist.«
    »Doch«, antwortete Tamar. »Sie mussten es wissen. Die Mädchen haben auch nicht nach ihm gesucht. Als sie den Gerd Hoflach überredet haben, ihnen mit dem Schlauchboot zu helfen, wollten sie nur den Walkman finden. Eines von den Mädchen ist sogar noch zu den Jehles und hat gesagt, er hätte sich Noten von ihr ausgeborgt. Die Elke war das, nehme ich an, aber man darf sie nicht danach fragen, auch nicht nach dem Brief, den sie bekommen hat, nicht wahr?«
    »Es gibt nichts, was man nicht noch hässlicher machen kann«, sagte Marlen. »Wir haben nichts gehört, keinen Schrei, nichts, nur das Rauschen und Brausen vom Fluss her. Einen Augenblick lang habe ich noch seinen Kopf gesehen, ein kleiner strohfarbener Ball im braunen, gurgelnden Wasser, aber dann war er auch schon verschwunden... Trotzdem hab ich immer gehofft, dass er nicht wirklich ertrunken ist. Es war keine richtige Hoffnung, sondern nur ein winziger Funken davon... Was sollen die Mädchen - was sollen wir denn jetzt tun?«
    Tamar stieg aus und nahm ihre Reisetasche vom Rücksitz. »Das müsst ihr selber wissen.«
    »Die ihn gestoßen hat, das war ich, weißt du das?«
    »Sicher weiß ich das«, sagte Tamar. »Diejenige, die nachts Steinchen an ein bestimmtes Fenster geworfen hat, muss auch den größten Zorn auf ihn gehabt haben. Deswegen bist du auch die Erste, die zu den Jehles gehen muss und ihnen die Wahrheit sagen.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Wenn du das nicht kannst, wird dir niemand helfen können.« Sie lächelte kurz. »Die Elke kann sich in den Alkohol flüchten. Die Audrey in ihre Depression. Das eine ist so gut wie das andere. Aber was hast du? Wie auch immer: Mach es gut. Und dank dir für deine Hilfe.«
    Sie schloss die Autotür.
    Friedrichshafen!, dachte der Mann, der See so blau, so lächelnd, so grauenhaft strahlend und von himmelschreiender Gleichgültigkeit. Und diese Menschen, gebräunt vom Segeltörn oder dem Bergsteigen im Montafon, Mercedes fahrend, Eigenheimbesitzer mit Uferzugang und Alpenblick: Wer von ihnen würde auch nur den Funken einer Einsicht verschwenden in das Elend ihres Mitmenschen hier, eines Mitmenschen, der kein Bett und keinen Cent besitzt, absolut nichts, und der sehr wahrscheinlich nicht einmal würde betteln gehen können, weil er sonst sofort die Aufpasser der slowakischen oder rumänischen Bettler-Mafia am Hals hätte...
    Moment. Er überprüfte seine Hosentasche. Tatsächlich hatte er noch immer die zwanzig Euro vom alten Jehle, zumindest ein Kaffee und eine Semmel vom Bahnhofsbüfett wären damit gesichert … Er ging die Stufen zur Halle des Stadtbahnhofs hoch, trat ein und blieb

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