Fortunas Tochter
Operationen durchführen dank der starken betäubenden Drogen und der goldenen Nadeln, die den Schmerz linderten, er konnte Blutungen einschränken und die Zeit der Wundheilung verkürzen, und der Chinese lernte das Skalpell gebrauchen und andere Methoden der europäischen Wissenschaft. Aber mit zitternden Händen und mit Augen, die von Alkohol und Tränen getrübt waren, stellte Tao Chi’en eine Gefahr da und keine Hilfe.
Im Frühjahr des Jahres 1847 wendete sich Tao Chi’ens Schicksal jäh, wie es schon einige Male in seinem Leben geschehen war. Weil er immer mehr Patienten verlor und sich das Gerede von seiner Untauglichkeit als Arzt verbreitete, mußte er sich auf die trostlosesten Viertel des Hafens beschränken, wo niemand nach Referenzen fragte. Es waren Routinefälle, mit denen er zu tun bekam: Quetschungen, Messerstiche, Schußwunden.
Eines Abends wurde er dringend zu einer Kneipe gerufen, um einen Matrosen nach einer gewaltigen Prügelei zu nähen. Er wurde in den hinteren Raum des Lokals geführt, wo der Mann lag, bewußtlos, der Schädel gespalten wie eine Melone. Sein Widersacher, ein riesiger Norweger, hatte einen schweren Tisch hochgehoben und als Schlagwerkzeug benutzt, um sich gegen seine Angreifer zu verteidigen, eine Gruppe Chinesen, die beschlossen hatten, ihm eine denkwürdige Abreibung zu verpassen. Sie warfen sich in Masse auf den Norweger und hätten Hackfleisch aus ihm gemacht, wären ihm nicht mehrere nordeuropäische Seeleute zu Hilfe gekommen, die im selben Lokal munter beim Trinken waren, und was als Streit zwischen betrunkenen Spielern angefangen hatte, gedieh zur Rassenschlacht. Als Tao Chi’en kam, waren diejenigen, die noch laufen konnten, längst verschwunden. Der Norweger war unversehrt auf sein Schiff zurück– gekehrt, von zwei englischen Polizisten eskortiert, und die einzigen auf der Bühne Verbliebenen waren der Wirt, das sterbende Opfer und sein Steuermann, der es fertig– gebracht hatte, die Polizisten wegzuschicken. Wäre der Verletzte ein Europäer gewesen, wäre er sicherlich im britischen Krankenhaus gelandet, aber da es sich um einen Asiaten handelte, regten die Hafenbehörden sich nicht weiter auf.
Tao Chi’en genügte ein Blick, um zu erkennen, daß er für den armen Teufel mit der zertrümmerten Schädeldecke und dem herausgetretenen Gehirn nichts tun konnte. So erklärte er es dem Steuermann, einem bärtigen, groben Engländer.
»Verdammter Chinese! Kannst du nicht das Blut abwischen und ihm den Kopf zusammennähen?« verlangte er.
»Sein Schädel ist gespalten, wozu ihn nähen? Er hat das Recht, in Frieden zu sterben.«
»Er darf nicht sterben! Mein Schiff läuft in aller Frühe aus, und ich brauche diesen Mann an Bord! Er ist der Koch!«
»Das tut mir leid«, erwiderte Tao Chi’en mit einer respektvollen Verneigung und suchte seinen Ärger über diesen unvernünftigen fan gui zu verbergen.
Der Steuermann bestellte eine Flasche Gin und lud Tao Chi’en ein, mit ihm zu trinken. Wenn dem Koch sowieso nicht mehr zu helfen sei, könnten sie auch ein Glas auf ihn trinken, damit später sein beschissener Geist, verflucht soll er sein, nicht nachts käme und ihnen die Beine langzöge. Sie machten es sich wenige Schritte von dem Sterbenden bequem und betranken sich in aller Ruhe. Von Zeit zu Zeit beugte Tao Chi’en sich zu dem Mann hinab und fühlte ihm den Puls, denn er schätzte, der arme Kerl könne nur noch für wenige Minuten Leben in sich haben, aber er erwies sich als unerwartet widerstandsfähig. Der zhong yi merkte gar nicht, daß der Engländer ihm ein Glas nach dem andern eingoß und selbst an dem seinen nur nippte. Schon bald wurde ihm schwindlig, und er konnte sich nicht mehr erinnern, weshalb er eigentlich hier war. Eine Stunde später, als der Sterbende nach ein paar letzten Zuckungen verschied, erfuhr Tao Chi’en nichts davon, denn er war besinnungslos vom Stuhl auf den Boden gerutscht.
Er erwachte im Licht einer strahlenden Mittagssonne, öffnete unter großer Schwierigkeit die Augen, und als er ein wenig zu sich gekommen war, sah er ringsum nur Himmel und Wasser. Er brauchte eine ganze Zeit, bis er begriff, daß er auf einer dicken Taurolle an Deck eines Schiffes lag. Die Schläge der Wellen gegen die Bordwand hallten in seinem Kopf wie gewaltiges Glockengeläut.
Er glaubte Stimmen zu hören, aber er war sich keiner Sache mehr sicher, vielleicht war er ja sogar im Reich der bösen Geister. Er schaffte es, sich hinzuknien und auf allen
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