Fortunas Tochter
für die Dauer der Reise berechnet, wobei natürliche Hemmnisse wie Stürme, die sie vom Kurs abbrachten, oder Flauten, die sie lahmlegten, nicht berücksichtigt waren, und dann wurde das Fehlende durch frisch in Netzen gefangene Fische ergänzt. Kulinarische Talente wurden von Tao Chi’en nicht erwartet, sein wichtigstes Amt war es, die Lebens– mittel zu überwachen, dazu den Schnaps und das Süßwasser, die jedem Mann zustanden, und den Verderb und die Ratten zu bekämpfen. Nebenbei oblagen ihm Reinigungsarbeiten, und er mußte soviel vom Segeln verstehen wie jeder Matrose auch.
Nach einer Woche begann er die frische Luft zu genießen, die harte Arbeit machte ihm nicht mehr viel aus, und er fühlte sich schon recht wohl in der Gesellschaft dieser Männer, die aus allen vier Himmelsrichtungen kamen, jeder mit seinen Geschichten, seinem Heimweh und seinen Fähigkeiten. In den raren Ruhepausen spielte der eine oder andre ein Instrument, und sie erzählten Geschichten von Seegespenstern oder von exotischen Frauen in fernen Häfen. Die Matrosen sprachen verschiedene Sprachen, hatten unterschiedliche Bräuche, aber sie waren durch etwas verbunden, was der Freundschaft nahekam. Das Abgeschiedensein von der übrigen Welt und die Gewißheit, daß sie einander brauchten, machten Kameraden aus Menschen, die sich auf festem Land nicht einmal angesehen hätten. Tao Chi’en fand sein Lachen wieder, das ihm seit Lins Erkrankung verlorengegangen war. Eines Morgens rief ihn der Steuermann, um ihn dem Kapitän John Sommers vorzustellen, den er bisher nur von weitem in der Befehlsluke gesehen hatte. Er stand vor einem hochge– wachsenen, von den Winden vieler Breiten gegerbten Mann mit einem dunklen Bart und Augen aus Stahl. Er redete ihn über den Steuermann an, der ein wenig Kantonesisch konnte, aber Tao antwortete in seinem Buchenglisch mit dem ein wenig gekünstelten aristokra– tischen Akzent, den er von Ebanizer Hobbs gelernt hatte.
»Mister Oglesby sagte mir, du bist so was wie ein Heiler?«
»Ich bin ein zhong yi, ein Arzt.«
»Arzt? Was denn für ein Arzt?«
»Die chinesische Medizin ist mehrere Jahrhunderte älter als die englische, Kapitän«, sagte Tao sanft lächelnd mit genau den Worten seines Freundes Ebanizer Hobbs.
Kapitän Sommers schob zornig die Brauen hoch ange– sichts der Unverschämtheit dieses merkwürdigen Kerls in der Kochschürze, aber die Wahrheit entwaffnete ihn dann doch, und er mußte lachen.
»Los, Mister Oglesby, bringen Sie uns drei Gläser Brandy. Stoßen wir an mit dem Doktor. Der Mann ist ein seltener Luxus. Zum erstenmal haben wir einen Arzt an Bord!«
Tao Chi’en führte seinen Vorsatz nicht aus, im ersten Hafen, den das Schiff anlief, zu desertieren, weil er nicht wußte, wohin er gehen sollte. Zu seinem verzweifelten Witwerdasein in Hongkong zurückzukehren war genauso sinnlos, wie weiter übers Meer zu segeln. Hier oder da, es war alles gleich, und als Seemann konnte er wenigstens Reisen machen und die in anderen Teilen der Welt gebräuchlichen Heilmethoden kennenlernen. Das einzige, was ihn wirklich peinigte, war Lin, die ihn bei diesem rastlosen Wellenreiten vielleicht nicht finden würde, sosehr er auch ihren Namen in alle Winde rief.
Im ersten Hafen ging er an Land, wie die andern mit der Erlaubnis, sechs Stunden fortzubleiben, aber statt die Zeit in Kneipen zu nutzen, streifte er über den Markt, um sich im Auftrag des Kapitäns nach Gewürzen und Heilkräutern umzuschauen. »Wenn wir nun schon einen Doktor an Bord haben, brauchen wir auch Medizin«, hatte er gesagt. Er gab ihm eine Börse mit abgezähltem Geld und warnte ihn, falls er daran dächte, abzuhauen oder ihn zu betrügen, würde er ihn suchen, bis er ihn fände, und ihm mit seiner eigenen Hand die Kehle durchschneiden, denn der Mann sei noch nicht geboren, der ihn ungestraft begaunern könne.
»Ist das klar, Chinese?«
»Ganz klar, Engländer.«
»Mich hast du mit Sir anzureden!«
»Jawohl, Sir«, antwortete Tao Chi’en und senkte den Blick, denn er lernte gerade, den Weißen nicht ins Gesicht zu sehen.
Seine erste Überraschung war die Entdeckung, daß China nicht der absolute Mittelpunkt des Universums war. Es gab andere Kulturen, barbarischer zwar, das gewiß, aber viel mächtiger. Er hatte ja nicht geahnt, daß die Briten ein gut Teil des Erdballs beherrschten, wie er auch nicht gewußt hatte, daß andere fan gui die Herren ausgedehnter Kolonien in fernen, auf vier Kontinente verteilten Ländern
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