Fräulein Else - Novelle
Deutschen Volkstheater in Wien.
1931
14. Februar: Uraufführung von Der Gang zum Weiher am Burgtheater in Wien.
13. bis 30. Mai: Die Novelle Flucht in die Finsternis erscheint in der Berliner Vossischen Zeitung .
21. Oktober: Arthur Schnitzler stirbt in Wien an den Folgen einer Gehirnblutung.
F RÄULEIN E LSE
Die psychoanalytisch orientierte Deutungsschule missbraucht Arthur Schnitzler gerne als poetischen Frontmann für Sigmund Freud. Aber die Monolognovelle Fräulein Else ist nicht als literarischer Reflex auf Freuds Fallstudien diverser adoleszenter Hysterikerinnen zu lesen, und sie verweist auch auf keine inzestuöse Beziehung des Vaters zu seiner Tochter. Es gibt keinen inzestuösen Missbrauch, weil die fiktive literarische Geschichte psychoanalytisch nicht hintergehbar ist. Sie lebt von Autors Gnaden, und dieser Autor erzählt in Wirklichkeit von einem Missbrauch ganz anderer Art, der bei aller psychologischen Sensibilität Schnitzlers für sein Geschöpf ganz wesentlich aus gesellschaftlichen Missverhältnissen resultiert.
Der Vater, den Else liebt, ist ein genialer, aber in Geldangelegenheiten leichtsinniger Advokat, der Mündelgelder veruntreut hat. Aus dieser Verlegenheit soll ihn die Tochter befreien, indem sie sich für ihn als Bittstellerin verwendet. Das eröffnet weiterem Missbrauch Tür und Tor, denn der um Hilfe gebetene Freund der Familie stellt anzüglich-erpresserische Bedingungen. Dieser Missbrauchsskandal ist hinreichend für eine Geschichte von äußerster Konzentration und erzählerischer Geschlossenheit, wenngleich auch er, wie so vieles an dieser Geschichte, ungesichert bleibt, ungesichert, weil ihr Wirklichkeitsstatus zweifelhaft ist.
Fräulein Else ist 19 Jahre jung und sicherlich ein wenig altklug für ihr Alter; sie ist nicht mehr in einem pubertären Frühstadium, sondern eher in einem Übergangsstadium zu einer erwachsenen Frau zu sehen. Sie ist sexuell aufgeklärt – in drei Tagen erwartet sie ihre Monatsblutung – und auch in den sonstigen Angelegenheiten des gesellschaftlichen Lebens ist sie nicht mehr im Stande der reinen Unmündigkeit. Das schließt nicht aus, dass sie gelegentlich etwas rechthaberisch und spitzzüngig zu sein scheint, dass sie sprunghaft in ihren Gedanken ist – aber das bedingt eher die gewählte, von Schnitzler als Gustl-Technik bezeichnete Erzählweise des inneren Monologs – und dass sie natürlich auch noch eine durchaus liebenswerte backfischhaft-schwärmerische Aura um sich her verbreitet. Sie träumt oft vor sich hin, in Tagtraumphantasien scheint sie gerne Erfahrungen und Erlebnisse aufzulösen und den skandalösen Missbrauch durch Vater, Mutter und Herrn von Dorsday verwandelt sie scheinbar in einen seligen Tod, in „scènes mignonnes“, in allerliebste, in niedliche Szenen, wie sie Schnitzler mit virtuos eingesetzten Anspielungen auf Robert Schumanns Klavierzyklus Carnaval und den drei daraus in die Erstausgabe eingefügten Notenzitaten wunderbar und höchst komplex gestaltet hat.
Robert Schumanns Wahl des Untertitels „scènes mignonnes sur quatre notes“ für seine neuartigen Charakterstücke Carnaval (op. 9) ist leider immer ignoriert worden, weil er einfach nicht zu der omnipräsenten Lesart einer tragisch-tödlichen Konstellation über das Textende der Erzählung hinaus zu passen scheint. Wie sollte man diesen Untertitel – und das Schumann-Zitat ist innerhalb der zitativen Verfahrensweise Schnitzlers anders als manch bescheideneres assoziatives Einsprengsel hermeneutisch stets unterbelichtet geblieben – mit dieser von Schnitzler angeblich tiefenpsychologisch aufgepolsterten dramatisch-tragischen Geschichte zur Deckung bringen? Selbst da, wo es in der deutenden Literatur zu Schnitzlers Text einen Rekurs auf Schumann gab, wurden seine musikalischen Faschingsszenen schnell in den Dienst einer eher die sozialkritischen Andeutungen des Textes unterstützenden Interpretation gestellt. Man deutete Schumanns geniale Capricen und sein musikalisch flatterhaft-leichtes Gewebe mit und um die Figuren der alten Commedia dell'Arte sofort in eine Offenbarung des maskenhaft-verlogenen Charakters der Gesellschaft um, die in Elses verzweifelter Anklage und in ihrem skandalösen Auftritt im Musiksalon demaskiert werden soll. Eine solche Umdeutung des zitierten Musikmaterials ist von Else ohnehin nicht zu haben, und auch von Schnitzler war sie nie beabsichtigt. Else kennt zwar Schumanns Carnaval – sie hat den Zyklus auch einmal studiert |114|
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