Fraeulein Jensen und die Liebe
Tisch hält, bekommt auch keiner etwas davon mit. Ich sehe verstohlen zur Seite. Der Mann neben mir sieht wie gebannt nach vorne und nickt regelmäßig. Der ist beschäftigt, das kann ich vergessen.
Auch ich konzentriere mich jetzt besser auf die Sitzung. Nachher fragt mich Alexander noch, was ich am interessantesten fand, und ich müsste sagen: »Nun, ich habe mich eigentlich nur mit dem Übersetzungsknopf befasst. Und da Sie ja sowieso die ganze Zeit arbeiten – könnten Sie wohl für mich die Telefonnummer vom Italiener auf Kanal vier herausfinden?«
Ich setze mich aufrecht hin und sehe angestrengt nach vorne. Ein Abgeordneter nach dem anderen meldet sich zu Wort. Am Anfang beglückwünscht jeder von ihnen den neuen Vorsitzenden zur Wahl. Danach sagt jeder, was er sich von der neuen Legislaturperiode erhofft.
Eine Italienerin wünscht sich eine Anti-Mafia-Kommission. Die Zustände seien verheerend. Man müsse dringend handeln.
Ich bekomme Gänsehaut. Hier geht es ja wirklich um etwas!
Dann steht eine Ungarin auf und schreit förmlich: »Ungarn ist in einer Menschenrechtskrise. Warum will das niemand sehen?«
Sie klingt verzweifelt. Morgen trete ich in einen Verein ein, der sich um die Menschenrechte in Ungarn kümmert.
Und dann meldet sich noch eine Spanierin zu Wort. Die Problematik der ETA muss dringend auf die Tagesordnung gesetzt werden. Ein Polizist sei vor Kurzem ermordet worden. Die Abgeordnete sieht ergriffen in die Runde und regt eine Schweigeminute an.
Ich muss schlucken. Wer hätte gedacht, dass Hannah Jensen aus Klixbüll für einen ermordeten spanischen Polizisten irgendwann einmal eine Schweigeminute einlegt? Das glauben mir meine Eltern nie!
Den Rest der Sitzung kann ich mich nicht mehr konzentrieren.
Nach einer halben Stunde, in der ich andächtig vor mich hin starre, ist alles vorbei. Die Abgeordneten schwirren zu den Ausgängen und Alexander Alvaro holt mich wie versprochen von meinem Platz ab.
»War’s spannend?«, fragt er.
Ich bringe ein »Und ob!« heraus und strahle ihn an.
Wir gehen Richtung Lobby zurück, da überholt uns eine blonde Frau, Marke Topmodel. Während sie an uns vorbeigeht, dreht sie sich kurz zu uns um und ruft lachend (Perlweiß-Zähne): »See you tomorrow, Alexander!«
»See you«, ruft er und wendet sich dann wieder mir zu: »Das war meine holländische Kollegin.«
Kann man eine Frau hassen, ohne sie zu kennen? Ja, man kann.
»Ist das hier eigentlich ein Heiratsmarkt?«, frage ich, als sie außer Sichtweite ist. »Ich meine, weil man sich ja dauernd sieht und so.« Ich lache etwas albern.
»Heiratsmarkt?« Alexander schüttelt vehement den Kopf. »Ich würde eher von einer großen Scheidungsparty sprechen. Es gibt Studien, die zeigen, dass jede dritte Ehe hier geschieden wird. Man muss sagen, dass es für eine Beziehung wirklich schwierig ist, wenn einer von beiden hier arbeitet. Die Gefahr, dass sie zerbricht, ist auf jeden Fall groß.«
Okay, ich habe verstanden. Er arbeitet 18 Stunden am Tag und in den sechs verbleibenden Stunden würde unsere Beziehung zerbrechen. Warum musste mein Traummann Nummer zehn bloß ein Politiker aus dem Europäischen Parlament sein? So kann das ja nichts werden. Mit mir und der Liebe.
Wir sind inzwischen in der Lobby angekommen. Dort, wo vor ein paar Stunden alles so hoffnungsfroh begann. Die große Drehtür schwingt nach draußen. Noch zwei Schritte, dann bin ich wieder in meiner alten Welt.
»Vielen Dank für das nette Gespräch«, sage ich.
»Gern geschehen. Sehen Sie sich jetzt noch Straßburg an?«
»Ja«, druckse ich. Und würde am liebsten hinzufügen: »Das wollte ich eigentlich mit Ihnen machen. Und dann hätten Sie mir eine kleine Kathedrale kaufen können.«
Es könnte perfekt sein. Ich sitze in einem kleinen Straßencafé in der Straßburger Altstadt, der Kellner hat mich mit »Bonjour Madame« begrüßt und mir charmant zugezwinkert, am Himmel ist keine Wolke zu sehen und in einiger Entfernung spielt ein Straßenmusikant auf dem Saxofon französische Schnulzen. Es ist die perfekte Atmosphäre für ein verliebtes Pärchen, das Arm in Arm durch die Gassen schlendert und sich nach jedem Schritt tief in die Augen sieht. Und genau das ist das Problem: Ich habe das Gefühl, dass ganz Straßburg um mich herum das genauso sieht. Alle sind verliebt! Gerade fragte mich ein chinesisches Pärchen, ob ich von ihnen ein Bild vor der Kathedrale machen könnte. Kurz bevor ich den Auslöser drückte,
Weitere Kostenlose Bücher