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Frage 62

Frage 62

Titel: Frage 62 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T. C. Boyle
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betrachtete er sie, so aufmerksam wie eben, als er seinen Vortrag gehalten hatte, »aber wenn ich noch ein Glas trinke, muss ich mich hinlegen. Wie sieht’s bei Ihnen aus? Wollen Sie sich hinlegen?«
    Mae hockte lange auf der feuchten Erde und spielte mit dem Gedanken, geräuschlos über den Rasen zum Nachbarhaus zu schleichen, zu den Kaprielians, und sie zu fragen, ob sie von ihnen Fleisch borgen oder kaufen könne – Steaks oder ein Bratenstück oder was auch immer. Es handle sich um einen Notfall, und sie werde ihnen das Geld später geben, könne aber jetzt nicht darüber sprechen. Fleisch, das war es, was sie brauchte. Irgendwelches Fleisch. Sie malte sich aus, wie sie die Stücke in einer Spur auf dem Rasen und der gekiesten Einfahrt bis in die Garage hinein auslegen würde und wie die große Katze sich würde hineinlocken lassen, wo sie dann mit vollem Bauch zwischen dem Wäschetrockner und dem Toyota einschlafen würde. Doch nein. Sie kannte die Kaprielians kaum. Und was sie von ihnen gesehen hatte, gefiel ihr nicht: Der Mann war ein irgendwie feindselig wirkender Fettwanst, der sich ständig über den Motor seines frisierten Wagens beugte, und die Frau sah selbst morgens, wenn sie bloß die Zeitung aus der Einfahrt holte, wie eine Nutte aus.
    Sie hielt nichts davon, Fleisch zu essen, und für Doug galt dasselbe. Das war eines der Dinge, die sie zu ihm hingezogen hatten, die sie gemeinsam hatten, obwohl es andere gab – bergeweise, mit Gipfeln, Graten und jähen Abstürzen –, in denen sie vollkommen verschiedener Ansicht waren. Aber Doug hatte zwei Sommer in einem Geflügelschlachthof in Tennessee gearbeitet, wo er Hühner aus Käfigen gezerrt und sie mit zusammengeklammerten Beinen an das Seil gehängt hatte, das sie zum Schlachten, Rupfen und Ausnehmen beförderte, und er hatte geschworen, nie mehr ein Stück Fleisch anzurühren. Inmitten von Hühnergegacker und Hühnergestank hatte er Zehntausende panischer Hühner mit wild flatternden Flügeln aufgehängt, und eines nach dem anderen war verschwunden, um sich den Kopf abschneiden und die Eingeweide herausnehmen zu lassen. »Was haben sie uns denn getan«, hatte er gesagt, und die Erinnerung daran hatte sein Gesicht verzerrt, »um ein solches Ende zu verdienen?«
    Noch immer kniete sie und hielt den Blick auf den Brustkorb des Tigers gerichtet, der sich im langsamen Rhythmus des Schlafs hob und senkte, und sie dachte, sie könnte ihm vielleicht Eier anbieten, eine Edelstahlpfanne voller roher Eier, und dann eine Spur aus Eiern legen, gerade so weit aufgebrochen, dass das Eigelb zu sehen war, als plötzlich die Hintertür des Nachbarhauses mit einem pneumatischen Stöhnen aufging und die Kaprielian, natürlich im Bademantel und mit hochhackigen Schuhen, die beiden aufgeregt bellenden Spitze in den Garten ließ. Sogleich war der Zauber verflogen. Die Tür fiel ächzend ins Schloss, die Hunde jagten über den Rasen wie Daunenfedern bei steifer Brise, und der Tiger war verschwunden.
    Später, als die Hunde des Schnüffelns und Bellens müde waren und der zunehmende Lärm eines Samstagvormittags im März die Straße erfüllte – Türen schlugen, Stimmen hoben und senkten sich, und Motoren jeder denkbaren Größe und Kubikzentimeterzahl erwachten brüllend zum Leben –, saß sie mit Doug am Küchentisch und starrte hinaus in die graue Leere des Gartens, wo es begonnen hatte zu regnen. Doug las mit zusammengekniffenen Augen die Zeitung. Er hatte sich eine Zigarette angezündet, zog daran und nippte dann an seiner zweiten Tasse mit zu heißem Kaffee. Er trug eine Pyjamahose und ein Sweatshirt mit Flecken von der Farbe, mit der er den Picknicktisch gestrichen hatte. Zunächst hatte er ihr nicht geglaubt. »Was?« hatte er gesagt. »Wir haben noch nicht den ersten April.« Aber dann stand es in der Zeitung – ein Foto von einem weißhaarigen Mann mit ledriger Haut, einem Fährtensucher, der sich über einen Pfotenabdruck im Matsch beugte, nicht weit von einer Touristenranch im Simi Valley entfernt, und als sie den Fernseher einschalteten, sahen sie vor dem flirrenden Rotor eines Hubschraubers einen Reporter stehen, der die Zuschauer ermahnte, im Haus zu bleiben und auch Haustiere nicht hinauszulassen, denn anscheinend sei eine große exotische Katze ausgebrochen, die potentiell gefährlich sei, und darauf waren sie beide in den Garten gegangen und hatten schweigend den Boden entlang des Zauns abgesucht.
    Sie fanden nichts, keine Spuren, gar nichts. Nur Erde.

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