Frankenstein oder Der moderne Prometheus
konnte ich nicht einschlafen; ein
halbschlummerndes Nachsinnen bemächtigte sich meiner. Phantastische
Bilder tauchten ungebeten vor mir auf und erreichten einen selten
hohen Grad von Lebendigkeit. Ich sah mit geschlossenen Augen den
bleichen Jünger der schrecklichen Wissenschaft vor dem Dinge
knieen, das er geschaffen. Ich sah das schreckliche Zerrbild eines
Menschen ausgestreckt daliegen und dann sich plump, maschinenmäßig
regen. Furchtbar müßte es auf den Menschen wirken, wenn es ihm
gelänge, den Schöpfer in seinem wunderbaren Wirken nachzuahmen. Der
Erfolg müßte den Künstler aufs tiefste erschrecken, so daß er
entsetzt der Stätte seiner Arbeit entflieht. Er müßte hoffen, daß
der schwache Lebensfunke, den er entzündet, sich selbst überlassen,
wieder erlösche; daß das Ding, dem er eine Art Leben eingehaucht,
wieder in die Materie zurücksinke; und er müßte einschlafen in dem
Gedanken, daß das Grab sich wieder schlösse über dem häßlichen
Leibe, den er als Triumph des Lebens bisher betrachtet hatte. Er
schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die Augen – an seinem
Bette steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge auseinander und starrt
auf ihn mit seinen gelben, wässerigen, aber aufmerksamen Augen.
Auch ich öffnete erschreckt die Lider. Die Idee hatte mich
derart gefangen genommen, daß es mich eiskalt überlief und ich
vergebens mich bemühte, das gespenstische Bild meiner Phantasie
wieder mit der Wirklichkeit zu vertauschen. Ich erinnere mich noch
heute ganz genau an das dunkle Zimmer mit seiner
Täfelung, auf der sich durch die
geschlossenen Gardinen fahl das Licht des Mondes spiegelte. Ich
wußte, daß draußen spiegelglatt der See lag und die Alpen ihre
Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich meines
Phantasiegebildes nicht ledig werden. Ich mußte versuchen an
Anderes zu denken. Da fiel mir meine Gespenstergeschichte ein,
meine unglückselige Gespenstergeschichte! Oh könnte ich doch eine
erfinden, die meine Leser ebenso erschüttern würde wie mich das
Gesicht jener Nacht!
Wie ein Licht flammte es in mir auf. Ich habe sie! Was mich
erschreckte, soll auch andere erschrecken. Ich habe nur den
unheimlichen Halbtraum jener Nacht zu beschreiben.
Anfangs dachte ich daran, nur eine kurze Erzählung zu schreiben.
Aber dann fesselte die Idee mich so stark, daß ich sie weiter
ausgesponnen habe. Und nun, du unheimliches Kind meiner Muse, gehe
hinaus und wirb dir Freunde!
London, 15. Oktober
1831.
M. W. S.
An Frau Saville, London
St. Petersburg, den
11. Dez. 18..
Es wird Dir Freude bereiten, zu hören, daß kein Mißgeschick den
Anfang des Unternehmens betroffen hat, dessen Vorbereitungen Du mit
solch trüben Ahnungen verfolgtest. Ich bin gestern hier angekommen,
und das Erste, was ich tue, ist, meiner lieben Schwester
mitzuteilen, daß ich mich wohl befinde und daß ich mit immer
wachsenden Hoffnungen dem Fortgang meines Unternehmens
entgegensehe.
Ich bin ein gut Stück weiter nördlich als London, und wenn ich
so durch die Straßen Petersburgs schlendere, pfeift mir ein eisiger
Wind um die Wangen, der meine Nerven erfrischt und mich mit Behagen
erfüllt. Begreifst Du dieses Gefühl? Dieser Wind, der aus den
Gegenden herbraust, denen ich entgegenreise, gibt mir einen
Vorgeschmack jener frostigen Klimate. Dieser Wind trägt mir auf
seinen Flügeln Verheißungen zu und meine Phantasien werden
lebhafter und glühender. Ich versuche vergebens, mir klar zu
machen, daß der Pol eine Eiswüste sein muß; immer stelle ich ihn
mir als eine Stätte der Schönheit und des Entzückens vor. Dort,
Margarete, geht die Sonne nicht unter; ihre mächtige Scheibe
streift am Horizont und verbreitet ein mildes Licht. Was dürfen wir
erwarten von diesem Lande der ewigen Sonne? Vielleicht entdecke ich
dort den Sitz jener geheimnisvollen Kraft, die der Magnetnadel ihre
Richtung verleiht, und bin imstande, die Unrichtigkeit so mancher
astronomischen Beobachtung und Hypothese zu beweisen. Meine
brennende Neugierde will ich mit dem Anblick von Ländern
befriedigen, die nie eines Menschen Auge noch sah, Erde werde ich
betreten, die nie vorher eines Menschen Fuß betrat. All das
erscheint mir so verlockend, daß ich Not und Tod nicht fürchte und
die mühselige Reise mit den freudigen Gefühlen eines Kindes
antreten werde, das mit seinen Gespielen das erste Mal ein Boot
besteigt, um den benachbartenFluß zu befahren.
Und selbst wenn alle meine Vermutungen mich täuschen sollten,
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