Frankenstein oder Der moderne Prometheus
Schneeberge, die
Dome der Natur, waren genau so wie einst. In dieser ruhevollen,
erhabenen Umgebung erholte ich mich, so daß ich meine Reise nach
Genf fortzusetzen vermochte.
Die Straße lief neben dem See her, der gegen meine Vaterstadt zu
immer schmaler wurde. Immer deutlicher erkannte ich die finsteren
Hänge des Jura und den schimmernden Scheitel des Montblanc. Ich
weinte wie ein Kind. »Geliebte Berge! Herrlicher See! Wie
freundlich grüßt ihr den Heimkehrenden! Hell leuchten die
Berghäupter und blau und friedlich sind Himmel und See. Soll das
Frieden bedeuten oder ist es nur, um mein Unglück noch mehr zu
vertiefen?«
Ich fürchte, mein lieber Freund, daß ich Ihnen lästig falle,
indem ich Sie mit den Schilderungen meiner Gefühle langweile.Aber es waren Tage des Glückes, die ich nie vergessen
werde. Mein Heimatland, meine geliebte Heimat! Nur ein Sohn dieses
Landes kann verstehen, was ich beim Anblick dieser Bäche, dieser
Berge und vor allem des lieblichen Sees empfand.
Aber je näher ich Genf kam, desto mehr bemächtigten sich meiner
wieder Gram und Furcht. Die Nacht sank hernieder, und als ich die
Berge nicht mehr erkennen konnte, wurde es mir noch düsterer zu
Mute. Wie ein unheimlicher Alb lag es auf meiner Seele und dunkel
fühlte ich voraus, daß ich dazu bestimmt war, das unglücklichste
aller Geschöpfe zu werden. Leider hatte ich das Richtige geahnt und
mich nur insofern geirrt, als meine Befürchtungen und Vorahnungen
nicht den hundertsten Teil all des Elendes darstellten, das mir
beschieden war.
Es war vollkommen Nacht geworden, als ich vor den Mauern von
Genf ankam. Aber die Tore der Stadt waren schon geschlossen und ich
mußte mich deshalb bequemen, die Nacht in Socheron, einem kleinen
Dörfchen eine halbe Stunde von Genf entfernt, zuzubringen. Da das
Wetter noch günstig war und ich doch keine Ruhe gefunden hätte,
beschloß ich, den Ort zu besuchen, wo mein armer Bruder Wilhelm
ermordet worden war. Ich war genötigt, mit einem Boot über den See
nach Plainpalais zu fahren. Während dieser kurzen Überfahrt
bemerkte ich, daß Blitze um den Scheitel des Montblanc zuckten. In
unheimlicher Hast zog ein Gewitter heran und ich begab mich sofort
nach der Landung auf einen niederen Hügel, um von dort aus das
Naturschauspiel zu beobachten. Es machte rasche Fortschritte. Bald
war der Himmel von Wolken überzogen und schon klatschten die ersten
schweren Tropfen hernieder. Dann öffneten sich rauschend die
Schleusen über mir.
Durch die wachsende Finsternis, den heulenden Sturm schritt ich
dahin, während in den Lüften der Donner entsetzlich brüllte. Er
hallte zurück vom Salêve und von den Wänden des Jura und der
Savoyer Alpen. Grelle Blitze blendeten meine Augen und der See
erschien wie ein Meer von Feuer; bis dann das Auge sich wieder
erholt hatte, wandelte ich in der pechschwarzen
Finsternis dahin. Wie man es in der Schweiz
häufig beobachten kann, waren Gewitter von verschiedenen Seiten
aufgestiegen. Das stärkste hing gerade über der Stadt, über dem
Teil des Sees, der sich zwischen Belrive und Copet ausdehnt. Ein
anderes entlud sich mit schwachen Blitzen über dem Jura und ein
drittes stand über dem Mole, einem spitzen Bergkegel östlich des
Sees.
Eilig schritt ich dahin, während ich mich des ebenso herrlichen
wie furchtbaren Schauspiels freute. Dieser tosende Kampf in den
Lüften erregte mich; ich klatschte in die Hände und schrie laut:
»Wilhelm, lieber Junge, das ist deine Leichenfeier, dein
Totengesang!« Während ich dies ausrief, bemerkte ich im Dunkel, daß
sich aus einem Gebüsch in meiner Nähe etwas herausschlich. Ich
stand still und starrte gespannt nach der Stelle; ich konnte mich
nicht getäuscht haben. Jäh zuckte ein Blitz auf – vor mir stand in
seiner gigantischen Größe, in seiner übermenschlichen Häßlichkeit
das Scheusal, der entsetzliche Dämon, dem ich das Leben gegeben.
Was wollte
er
hier?
War
er
vielleicht (ich schauderte bei dem
Gedanken) der Mörder meines Bruders? Kaum war mir diese Möglichkeit
durch den Kopf gefahren, da setzte sie sich schon als Gewißheit in
mir fest. Meine Zähne klapperten und ich mußte mich gegen einen
Baum lehnen. Die Gestalt huschte an mir vorbei und verschwand im
Dunkel. Kein menschliches Wesen hatte Wilhelm
getötet,
er
war es! Ein Zweifel erschien mir
ausgeschlossen. Schon die Tatsache, daß mir der Gedanke überhaupt
kam, war mir ein Beweis für seine Richtigkeit. Einen Augenblick
dachte ich daran, den
Weitere Kostenlose Bücher