Frankenstein oder Der moderne Prometheus
ich mich schon erholt und sog neue Kraft aus der
reinen, heilsamen Luft, dem abwechselungsreichen Anblick der Natur
und den Gesprächen meines Freundes. Das Studium hatte mich vordem
vollkommen von meinen Mitgeschöpfen getrennt und mich einsam
gemacht. Aber Clerval gelang es, wieder die besseren Gefühle meines
Herzens die Oberhand gewinnen zu lassen; ich hatte wieder Freude an
der Natur und an den unschuldigen Kindergesichtern. Ein edler
Freund! Wie aufrichtig er mich liebte und sich bemühte, mich auf
seine Höhe zu erheben! Selbstsucht hatte mich kleinlich und
engherzig gemacht, aber sein Edelmut und seine Liebe öffneten mir
das Herz. Ich wurde wieder dasselbe glückliche Geschöpf, das ich
vorher gewesen, sorglos und froh. Da ich glücklich war, hatte auch
die Natur die Macht, freudige Gefühle in mir zu erwecken. Heiterer
Himmel und grünende Wiesen erfüllten mich mit Entzücken. Es war
eine herrliche Zeit; die Frühlingsblüten zierten noch Baum und
Strauch und die Blumen des Sommers brachen schon überall hervor.
Die Gedanken, die mich im vergangenen Jahre so schwer bedrückt
hatten, trotzdem ich mir alle Mühe gab, sie von mir zu werfen,
waren von mir gewichen.
Henry war glücklich, als er mich so froh sah. Er war
unerschöpflich an gedankenreicher Konversation, und oftmals erfand
er nach Art der persischen und arabischen Märchendichter
Geschichten von wunderbarer Schönheit und Glut. Zuweilen
wiederholte er mir meine Lieblingsdichter oder begann mit mir
Diskussionen, die er mit großer Beharrlichkeit durchfocht.
Sonntag Nachmittag kehrten wir in unsere Universitätsstadt
zurück. Die Bauern tanzten und alle Welt schien glücklich und
sorglos. Ich selbst war in köstlicher Laune, und voll unbändiger
Heiterkeit und Fröhlichkeit wäre ich selbst am liebsten
gesprungen.
Kapitel 7
Bei meiner Heimkehr fand ich einen Brief meines Vaters vor und
las:
Lieber Viktor! Du wirst mit Ungeduld auf meinen Brief haben, der
Dir das genaue Datum Deiner Rückreise zu uns angeben soll. Und
eigentlich hatte ich erst die Absicht, Dir nur einige wenige Zeilen
zu schreiben, die Dir sagen sollten, wann wir Dich hier erwarten.
Aber das wäre eine grausame Schonung gewesen und ich wagte es
nicht. Wie überrascht wärst Du gewesen, mein lieber Sohn, wenn Du
anstatt eines frohen, herzlichen Willkommgrußes in ein Haus voll
Trauer und Tränen gekommen wärest. Wie kann ich Dir nur unser
Unglück schildern, Viktor? Deine lange Abwesenheit hat Dich sicher
nicht gefühllos für unsere Freuden und Leiden gemacht, und wie
schwer wird es mir, meinem Sohne, der schon so lange in der Ferne
weilt, wehe zu tun! Ich möchte Dich gern vorbereiten auf das
Furchtbare, was ich Dir sagen muß, aber ich weiß, es ist unmöglich.
Ich sehe jetzt schon Deine Augen vorausfliegen nach der Stelle, die
Dir das Unheilvolle verkündet.
Wilhelm ist – tot! Der süße, liebe Junge, dessen Lächeln meinem
Herzen wohltat wie warmer Sonnenschein, und der so reizend, so
fröhlich war! Viktor, denke Dir, man hat ihn ermordet!
Letzten Donnerstag (7. Mai) ging ich mit Elisabeth und Deinen
zwei Brüdern nach Plaipalais spazieren. Es war ein warmer, schöner
Abend und wir dehnten unseren Spaziergang weiter aus als
gewöhnlich. Es war schon dämmerig geworden, bis wir ans Umkehren
dachten; aber wir vermißten Wilhelm und Ernst, die uns
vorausgegangen waren. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und
warteten, bis auch sie umkehren würden. Plötzlich kam Ernst und
fragte, ob wir nicht seinen Bruder gesehen hätten. Er erzählte, daß
sie gespielt hätten und Wilhelm davongelaufen sei, um sich zu
verstecken; er habe ihn dann lange vergeblich gesucht und noch
länger auf ihn gewartet.
Diese Erzählung versetzte uns in nicht
geringe Erregung und wir begaben uns auf die Suche, bis es dunkle
Nacht war. Elisabeth kam auf die Vermutung, daß der Knabe
vielleicht heimgelaufen sein könnte. Aber auch hier fanden wir ihn
nicht. Wir gingen wieder hinaus, diesmal mit Fackeln, denn ich
hatte keine Ruhe, wenn ich daran dachte, daß der Junge sich
verlaufen haben könnte und die ganze Nacht dem Nebel und Tau
ausgesetzt sei. Auch Elisabeth litt furchtbare Angst. Morgens gegen
fünf Uhr fand ich den lieben Knaben, den ich noch am Abend zuvor
blühend und frisch gesehen hatte, bleich und steif auf dem
Grasboden ausgestreckt; an seinem Halse erkannte man noch die
Fingerabdrücke des Mörders.
Ich brachte ihn nach Hause, und die Qual, die sich in meinen
Zügen ausdrücken
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