Frankenstein oder Der moderne Prometheus
Dämon zu verfolgen und zu erwürgen; aber
jeder Versuch wäre umsonst gewesen, denn im blendenden Lichte des
nächsten Blitzes sah ich ihn an der senkrechten Wand des Mont
Salêve, eines Berges, der sich südlich Plainpalais erhebt,
hinaufklettern. Bald hatte er den Gipfel erreicht und war
verschwunden.
Ich stand regungslos. Das Unwetter hatte aufgehört, aber es
regnete noch immer und alles ringsum war in rabenschwarze
Finsternis gehüllt. Vor meinem Geiste rollten sich in rascher Folge
all die Ereignisse ab, die ich mit größter Mühe zu
vergessen getrachtet hatte: die Vorarbeiten
meiner unseligen Schöpfung, das Erscheinen der Kreatur an meinem
Bett und ihr Verschwinden. Zwei Jahre fast waren seit jener Nacht
verronnen, da das Werk meiner Hände zu leben begann. War das sein
erstes Verbrechen? Leider hatte ich ein Scheusal auf die Welt
losgelassen, das an grausigen Bluttaten seine Freude hatte. Hatte
er denn nicht meinen Bruder getötet?
Ich kann nicht beschreiben, welche Angst ich in jener Nacht
litt, die ich, durchnäßt und halb erfroren, im Freien verbrachte.
Das Wetter ließ mich ganz gleichgültig; ich erschöpfte mich im
Durchdenken all des Leides und der Verzweiflung, die mir noch
bevorstanden. Was für ein Wesen hatte ich da in die Welt gesetzt?
Mit starkem Willen und großer körperlicher Kraft hatte ich es
ausgerüstet, die es nun zu blutigen Zwecken mißbrauchte, wie die
Tatsachen bewiesen. Es war wie mein eigener Vampyr, der aus dem
Grabe zurückkehrt, um alles zu zerstören, was ihm im Leben lieb
war.
Der Tag dämmerte herauf und ich wandte meine Schritte der Stadt
zu. Die Tore waren schon geöffnet und ich eilte zu meines Vaters
Hause. Anfangs trug ich mich mit der Absicht, sofort alles bekannt
zu machen, was ich von dem Mörder wußte, und eine Verfolgung
einleiten zu lassen. Aber ich zögerte, wenn ich daran
dachte,
was
ich zu erzählen hatte. Ein Wesen,
das ich selbst gebildet und mit Leben begabt habe, hätte ich mitten
in der Nacht in den unzugänglichen Berghängen nahe meiner
Heimatstadt angetroffen. Auch das Nervenfieber, das mich gerade zur
Zeit der Vollendung meines Werkes ergriffen hatte, diente nicht
dazu, meiner Erzählung einen größeren Grad von Wahrscheinlichkeit
zu verleihen. Ich wußte sehr wohl, daß, wenn ein anderer mir
dieselbe Geschichte berichtete, ich sie für den Ausfluß einer
überreizten Phantasie hätte erklären müssen. Außerdem würde ja die
seltsame Natur des Wesens jede Verfolgung ausgeschlossen haben,
selbst wenn es mir gelungen wäre, meinen Vater überhaupt von der
Notwendigkeit einer Verfolgung zu überzeugen. Und welchen Ausgang
würde eine derartige Unternehmung haben gegen ein Wesen, das imstande war, die überhängenden
Felsen des Mont Salêve ohne weiteres zu erklimmen? Diese Erwägungen
veranlaßten mich zum Schweigen.
Es mochte etwa fünf Uhr morgens sein, als ich das väterliche
Haus betrat. Ich wies die Dienstboten an, jegliche Störung der
Familienmitglieder zu vermeiden, und begab mich in die Bibliothek,
um meine Lieben zu erwarten.
Sechs Jahre also waren vergangen, seit ich das letzte Mal hier
stand und mein Vater mich vor meiner Abreise nach Ingolstadt in die
Arme schloß. Vergangen waren sie wie ein Traum, allerdings wie
einer, der untilgbare Spuren hinterläßt. Edler, geliebter Vater, du
wenigstens bist mir geblieben! Ich blickte auf das Bildnis meiner
Mutter, das über dem Kamin hing; es stellte sie dar, wie sie, noch
als Karoline Beaufort, am Sarge ihres Vaters kniete. Ihr Kleid war
einfach und ihre Wange schmal und bleich, aber ihre Haltung so
stolz und aufrecht, daß man einem Gefühl des Mitleides kaum Raum zu
geben vermochte. Unter diesem Gemälde hing ein kleines Bildchen
Wilhelms, und Tränen stiegen mir in die Augen, als ich es
betrachtete. Unterdessen trat mein Bruder Ernst ein; er hatte mich
kommen hören und sich beeilt, zu meiner Begrüßung herunterzukommen.
Mit schmerzlicher Freude drückte er mir die Hand und sagte:
»Willkommen, lieber Viktor! Vor drei Monaten noch hättest du uns
alle froh und glücklich angetroffen. Heute kommst du, um ein Leid
mit uns zu teilen, das niemand mehr gutmachen kann. Ich hoffe ja,
daß deine Gegenwart unseren Vater wieder etwas aufrichten wird, der
unter dem furchtbaren Unglück fast zusammenbricht, und dir wird es
vielleicht gelingen, Elisabeths zwecklose, quälende Selbstanklagen
zum Schweigen zu bringen. Armer Wilhelm! Er war unser Stolz und
unsere Freude!«
Unaufhaltsam
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