Frau des Windes - Roman
empfunden hat.
»Haben Ihre Eltern Ihnen nicht beigebracht, dass man Leute nicht einfach zu Hause überfällt?«
»Mein Vater ist tot, er war schwul. Meine Mutter treibt sich irgendwo rum, keine Ahnung, wo.«
Plötzlich springt das flippige Mädchen von ihrem Stuhl auf, wirbelt um den Tisch, tanzt mit einer solchen Anmut und lächelt so dankbar, dass Leonora sich unwillkürlich entspannt. Ihre schwebenden Hände sind zwei Möwen, aus den Rissen ihrer abgetragenen Jeans schauen die Knie und ein Streifen Oberschenkel hervor, ihr an der Stuhllehne hängender Rucksack, ebenfalls abgewetzt, ist die verkörperte Verwahrlosung.
»So ein Wahnsinn!« Mit einem mulmigen Gefühl schaut Leonora ihr zu.
Unglücklicherweise ist Gaby an der University of California in San Diego und Pablo in Virginia; und ihr Freund Alan Glass ist nach Kanada verreist. Die Polizei rufen? Auf keinen Fall. Vielleicht ist dieses schutzlose Geschöpf eine junge Iphigenie.
»Gehen Sie jetzt, wir müssen los.«
Pepita gewinnt die Schlacht. Sie begleitet Leonora und Yolanda zur Bank, setzt sich dort aber zu Leonoras Erleichterung in einen Sessel und macht keine Anstalten, mit zum Schalter zu gehen. Draußen auf der Straße schauen die jungen Männer ihr nach.
»So, und jetzt verabschieden wir uns«, sagt Leonora mit Bestimmtheit.
»Heute müssen wir in den Supermarkt«, ruft ihr Yolanda in Erinnerung.
»Ich fahre Sie mit meinem Wagen hin, die Tüten können wir in den Kofferraum stellen.«
»Sie haben ein Auto?«
»Klar! Wo ist die Liste?«
Im Supermarkt schauen zwei Wächter herüber, als Pepita ihre Kopfhörer aus dem Rucksack holt, sie aufsetzt und zur Musik herumhüpft. Ihr ungeniertes Verhalten macht andere Kunden auf sie aufmerksam. Leonora, an ihre Zigarette geklammert, stützt sich auf Yolandas Arm, und die schaut mit besorgter Miene dem quirligen, ausgeflippten Ding namens Pepita zu. Mir nichts, dir nichts greift das Mädchen nach dem Einkaufswagen, schiebt ihn zur Kasse, stellt sich in die Schlange und holt einen Stapel Geldscheine aus dem Rucksack.
»O nein, das auf gar keinen Fall!«, protestiert Leonora.
»So geht es schneller. Sie können es mir ja bei Ihnen zu Hause wiedergeben.«
Als Yolanda am nächsten Morgen vor die Tür geht, sieht sie Pepitas grünen Wagen auf dem Bürgersteig gegenüber stehen.
»Señora, draußen ist die Kleine, die gestern hier war.«
»Das darf nicht wahr sein!«
»Lass uns ins Kino gehen!«, »Komm, wir gehen in den Zoo!«, »Ich helfe dir auf den Rücken eines Elefanten!«, »Wir müssen unbedingt zum Naturpark La Marquesa, da können wir Motorrad fahren und auf dem Rasen picknicken!«, »Was, du kennst das Brady Museum nicht?«, »Den leckersten Schokoladenkuchen von ganz Mexiko bekommt man bei Dupont!«, »All diese Orte musst du unbedingt kennenlernen!«.
Leonora wehrt sich:
»Ich war schon einmal in einem Dschungel aus Gesichtern, da will ich nicht wieder hin.«
Durch das junge Mädchen lernt sie das Gedränge auf den Terrassen von Tlatelolco kennen, den Trubel vor der Kathedrale, die Cafés von La Condesa.
»Lass uns ins King Kong gehen, Leonora, gib mir die Hand, ich gebe dir etwas von meiner Energie ab.«
Leonora legt ihre kleine Hand in die von Pepita mit den abgekauten Fingernägeln.
»Ich habe einen Schlag gekriegt.«
Leonora lächelt zufrieden.
»In meinen Gehirnlappen steckt immer noch eine Menge Energie. Wusstest du, dass ich mit der rechten und mit der linken Hand schreiben kann? Sag mal, was ist dieses King Kong?«
»Ein toller Nachtclub, wo einen Gorillas bedienen, na ja, als Gorillas verkleidete Kellner.«
Leonora gefällt das verwirrte Staunen, das Pepita in ihr auslöst, und dass sie ihr so vieles zeigt. ›Warum habe ich das nicht früher gesehen?‹ Yolanda, die die beiden anfangs begleitet hat, sagt, sie müsse Wäsche waschen. Die Malerin findet zurück zu ihrem Humor.
Pepita kündigt sich nie telefonisch an, sie klingelt einfach an der Tür, und kaum hat Yolanda geöffnet, stürmt sie mit einem Blumenstrauß im Arm in den Flur.
»Bring mir keine Blumen mit«, sagt Leonora, »das sind Leichen.«
Eines Tages, als Pepita sie mal wieder in ihrem grünen Auto durch die Gegend fährt, gesteht Leonora:
»Mich zu erinnern bekommt meiner Stimmung nicht besonders, aber bei dir, weiß der Kuckuck, warum, habe ich Lust, alles zu erzählen, was mir durch den Kopf geht.«
Das Mädchen hält die Luft an, damit die Malerin ihren Erinnerungsfaden nicht verliert. Beim
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