Frau des Windes - Roman
es ist die wichtigste Mahlzeit des Tages«. Pablo kommt spät von seinem Dienst im Krankenhaus zurück, seine Mutter wartet rauchend auf ihn.
»Ma’, der Arzt hier bin ich«, sagt er, »also geh jetzt bitte schlafen. Worüber grübelst du denn nach?«
»Darüber, dass niemand einem das Sterben beibringt.«
Eines Tages, zurück in Mexiko, klingelt es Sturm an der Tür.
»Verdammt noch mal! Wer immer das ist, hat überhaupt keinen Anstand«, faucht Leonora.
»Draußen steht ein junges Mädchen, das behauptet, es sei eine Verehrerin von Ihnen«, sagt Yolanda Gudiño, eine junge Pflegerin, die sich Tag und Nacht um Leonora kümmert.
»Was fällt ihr ein? Sag ihr, dass ich nicht …«
Sie hat den Satz noch nicht beendet, da kommt die junge Frau in den Flur gerauscht, läuft auf sie zu und umarmt sie. Leonora wehrt sich, aber die Frau erdrückt sie fast.
»Ich bin Ihr größter Fan, ich habe Sie an der Uni gesehen, ich liebe Sie, ich himmle Sie an, Sie sind genial, bitte ändern Sie sich nie!«
Nachdem sie ihr beinahe die Rippen gebrochen hat, bahnt sie sich gebieterisch ihren Weg. Die Luft gerät in Wallung, eine duftende Brise umweht sie. Leonora versucht, sie aufzuhalten, ohne Erfolg. Yolanda beobachtet das Schauspiel, die Tür zur Straße steht immer noch offen.
»Gehen Sie bitte, Sie bereiten der Señora Unannehmlichkeiten …«
Es ist aussichtslos, das junge Ding flattert umher.
»Die Señora empfängt keinen Besuch ohne vorherige Anmeldung, Sie müssen …«
Gerade will die Pflegerin die Polizei anrufen, da hat die Señora sich so weit gefangen, dass sie mit entrüsteter Stimme »Was fällt Ihnen ein?« rufen kann. In ihren Augen flackert Wut, sie greift nach einer imaginären Peitsche, Autorität dringt ihr aus allen Poren.
»Ich liebe Sie, ich liebe Sie, ich liebe Sie!«, ruft das junge Mädchen, noch bevor Leonora den Arm heben kann.
»Wenn Sie mich lieben, dann respektieren Sie mich!«
»Aber das tue ich doch, Leonora.«
»Verlassen Sie auf der Stelle mein Haus!«
»Ich kann nicht.«
»Begleiten Sie sie zur Tür, Yolanda.«
Als Yolanda näher kommt, zieht die junge Frau blitzschnell den Reißverschluss ihrer Jacke auf.
»Ich bin auch eine Stute!« Ihr Lachen schlägt in Schluchzen um.
Leonora lässt den Arm mit der Peitsche sinken.
»Wollen Sie eine Tasse Tee?«, fragt sie unvermittelt.
Die Pflegerin geht zur Haustür und schließt sie.
»Kommen Sie mit in die Küche. Wer sind Sie?«
»Ich heiße Josefina, aber alle nennen mich Pepita.«
Leonora trinkt ihren Tee und mustert sie. Ihr glattes, ungleichmäßig geschnittenes Haar reicht ihr bis auf die Schultern, sie platzt vor Vitalität. Alles an ihr wirkt in Eile. Ihre Nase ist gepierct, und in jedem Ohrläppchen stecken mehrere Ringe. Die abgetragene Jacke hat sie ausgezogen, unter ihrem zerrissenen T-Shirt schaut der Bauchnabel hervor, auch er mit zwei Ringen verziert. Auf ihrem Arm ist eine gefiederte Schlange zu sehen.
»Was haben Sie da?«
»Ein Tattoo, und da bin ich gepierct. Haben Sie so was noch nie gesehen? Soll ich Ihnen Ihre Zigarette anzünden, Leonora?«
»Meine Zigarette kann ich sehr gut allein anzünden.«
»Und mein Tee?«
Yolanda ist fassungslos.
»Was machen Sie so im Leben?«, fragt Leonora.
»Das, was alle in meinem Alter machen, studieren.«
»Und was?«
»Literatur. Deshalb kenne ich Sie so gut. Ich habe Das Haus der Angst gelesen , Unten, Das siebente Siegel, Die ovale Dame, Das Höhrrohr , alles. Außerdem habe ich jede Menge Bücher über Sie. Ihretwegen habe ich mir auch Lavatsky, Ouspensky, Gurdjieff und Jung reingezogen. Ernsts Bilder sind wirklich besser als ein Orgasmus.«
Was für ein dreistes Ding! Misstrauisch hört Yolanda zu. Als sie Anstalten macht, die Küche zu verlassen, gibt Leonora ihr durch ein Zeichen zu verstehen, sie solle dableiben.
»Falls sie zu tun hat, kann ich Sie betreuen. Ich weiß alles über Sie.«
»Trinken Sie aus, ich habe Dinge zu erledigen und werde gleich aus dem Haus gehen«, kündigt Leonora in strengem Ton an.
»Ich begleite Sie, mein einziger Termin sind Sie.«
Pepita nimmt ihre Teetasse in beide Hände und trinkt sie in einem Zug leer.
»Zu Diensten – ich bin fertig.«
»Dann können Sie gehen.«
»Wieso! Ich will Ihnen in allem behilflich sein.«
»Yolanda hilft mir, meine Söhne helfen mir.«
Zu jedem Einwand fällt dem Mädchen eine Antwort ein. Leonora spürt eine Wut aus alten Tagen in sich aufsteigen, einen Zorn, wie sie ihn lange nicht mehr
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