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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Insel Verlag
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Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.«
    »Wenn ich an die korrupten Behörden denke, könnte ich aus der Haut fahren.«
    Der Anblick der Ruinen tut Chiki in der Seele weh und erinnert ihn an die Bombenangriffe auf Madrid, an Capa, der quer über die Straße brüllt, an Chim mit seiner Kamera vorm Gesicht und die in den Schutz einer Mauer flüchtende Gerda. Durch die Colonia Roma zu laufen und überall eingestürzte Häuser zu sehen deprimiert ihn. Schon nach wenigen Tagen lassen sich in der Calle Chihuahua Bettler in den Trümmern nieder und spannen sich aus Stoffen und Plastikplanen ein Dach. Hunde und Katzen streunen in den Ruinen umher. Nirgends in der ganzen Stadt sind so viele Häuser eingestürzt wie in diesem alten Viertel. Leonora fragt sich, wie die Leute zwischen Staub, Steinen und verbogenen Eisenstangen leben können. »Señora, sollen wir die Straße für Sie fegen?« Die Nachbarschaft ist nicht mehr dieselbe. Chiki begrüßt die Neuankömmlinge. »Sollen wir auf Ihren Wagen aufpassen, Chef?«, fragen die Bettler, die in den Trümmern gegenüber hausen.
     
    Wenn Leonora verreist, mit dem Zug oder dem Bus, nimmt sie immer eine ihrer noch unfertigen Puppen mit und arbeitet auf der Fahrt daran, näht ein Kleidungsstück zusammen, bringt Knöpfe an. Im Hotel geht sie erneut ans Werk, und so wird die eine oder andere Puppe fertig.
    »Nimmst du jedes Mal deine Puppen mit?«, fragt Natalia Zaharías.
    »Ja, sie sind meine Teppiche. Ich mache es wie die Beduinen, die mit ihrem Teppich auf dem Rücken losziehen und im Sand ihr Lager aufschlagen. Ich nehme meine Puppen mit, um mich, egal, wohin ich reise, zu Hause zu fühlen.«
    Abermals lässt sie sich in der Wohnung gegenüber des Gramercy Park nieder und holt als Erstes Baskerville aus der Hundepension, dann läuft sie durch die vertrauten Straßen, Madison Avenue, Park Avenue, Lexington Avenue, Fifth Avenue. Gehend wird sie wieder zur Stute. Manchmal schaut Baskerville mit flehenden Augen und hängender Zunge zu ihr auf. »Komm schon, Baskerville, sei nicht so faul«, mahnt sie ihn. »Ich falle auf der Stelle tot um«, antwortet der Hund. Leonora erzählt ihm, dass sie jetzt zusammen zum Meer gehen, dass sie die Hudson-Brücke überqueren und im Vorbeigehen die Freiheitsstatue grüßen werden. Manchmal ist sie plötzlich wieder in einer der Straßen, durch die sie damals mit Max gelaufen ist, aber sie denkt nicht an ihn, hält nicht einmal Ausschau nach den kleinen Cafés, die sie einst gemeinsam aufgesucht haben. Außerdem müsste sie dort Baskerville vor der Tür anbinden. Wenn man sie zum Abendessen einlädt, fragt sie jedes Mal: »Dürfte ich meinen Hund mitbringen? Er hasst es, allein zu sein, er wartet dann die ganze Zeit auf meinen Anruf und raucht dabei wie ein Schlot.« Manche sagen nein, dann kürzt Leonora ihren Besuch ab.
    Sie muss Briefe beantworten und bittet die Galerie, es für sie zu tun. Sie klingt so besorgt, dass man sich bereit erklärt, ihr diese Aufgabe abzunehmen. In Paris findet die Ausstellung ›L’aventure surréaliste autour d’André Breton‹ statt und präsentiert auch einige ihrer Werke. 1986 veröffentlicht Leonora Alle Vögel fliegen hoch , Erzählungen, die sie in den Dreißigerjahren geschrieben und zu einem Sammelband zusammengefasst hat. Unter dem Eindruck der Lektüre des apokryphen Evangeliums der Maria Magdalena malt sie The Magdalens . Der auferstandene Christus kommt aus seinem Grab, und Leonoras Magdalena reicht ihm ihre stigmatisierte Hand; neben ihr Wasser und ein großer Fisch als Symbole des Christentums.
    Nach wie vor ist Leonora Stimmungsschwankungen ausgeliefert, steigt hinab in eine Höhle, die nicht ihre Küche ist, sondern ein schwarzes Loch, ein Schacht der Einsamkeit. Und immer noch fragt sie sich, ob sie in Mexiko sterben will, tröstet sich mit der Vorstellung, dass der Tod ein langsames Verdunsten ist und jedes Atom eine Farbe. Hat es sich gelohnt, das Anwesen von Hazelwood gegen eine Studentenbude in London einzutauschen und sich an der Hand von Max der Welt entgegenzustellen? Das Antlitz im Schlamm des Irrenhauses zu vergraben und mit Renato nach Mexiko zu fliehen? Im Exil zu leben, in einem Land, das sie verwirrt und gefangen hält? Sie weiß, dass sie es wieder tun würde, von klein auf hat sie sich angewöhnt, Risiken einzugehen. Einmal ist Winkie auf sie gestürzt, sie lag unter der Stute und hat sie auf die Beine gezwungen: »Winkie, hoch mit dir!« ›Je mehr Hindernisse, desto besser!

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