Frau des Windes - Roman
meiner Rebellion, das meiner Mutterschaft und das meiner Malerei.«
»Ich habe mehr erlebt als du«, brüstet sich Pepita. »Weder Erniedrigung noch Schmerzen aller Art sind mir erspart geblieben. Worunter hast du am meisten gelitten?«
Gab es je etwas, das ihr größeren Schmerz bereitet hat als der Verlust von Max oder das Eingesperrtsein? Chiki, der Vater ihrer Kinder, lebt an ihrer Seite, als wäre die Erde ein riesiges Waisenhaus voller Nummern. Im Laufe der Jahre hat Leonora ihn aufgegeben, so wie er selbst es getan hat. Sie aber ist lebendig, nichts von dem, was ihre Person ausmacht, ist verschwunden, weder ihre Malerei noch ihre Rebellion, noch ihre arrogante Einzigartigkeit oder ihre englische Höflichkeit, ihre Meinung über andere, ihre Visionen. Nur eine Sache gibt es, über die sie nichts weiß: ihren eigenen Tod.
»In meinem Alter mache ich mir allmählich Sorgen, was nach dem Tod kommt.«
»Glaubst du denn, dass danach etwas kommt? So wie man sich mit dem Leben versöhnt, müsste man sich auch mit dem Gedanken an den Tod versöhnen.«
»Wie soll man sich denn mit dem Unbekannten versöhnen? Wir wissen nichts über den Tod, außer dass alle sterben: Tiere, Pflanzen, Mineralien. Alles stirbt«, ruft Leonora. »Wie kann man Frieden schließen mit einer Sache, über die man nichts weiß? Dem Tod entgegenschauen? Am liebsten würde ich gar nicht sterben, aber falls es doch passiert, dann erst mit fünfhundert Jahren und derart, dass ich mich langsam verflüchtige.«
»Ärgere dich nicht, nimm es leicht, es war doch nur eine Frage! Vielleicht sterbe ich ja vor dir.«
»Wie fühlt sich das an?«, fragt Leonora. »Was ist der Tod? Ich kam auf die Welt, um herauszufinden, um was es im Leben wirklich geht, und ich weiß es immer noch nicht.«
Eines weiß sie indes mit Sicherheit, ihre Freiheit ist ein Sieg, aber um ihretwillen lebt sie allein. Sich im Laufe ihres Lebens von Gott, den Konventionen, von Max, Renato, Chiki, Edward, Álvaro zu befreien war schwer. Manche Gedanken beunruhigen sie noch immer, auch ihr mit den Jahren nachlassender Körper. Bisweilen taucht Max in den Nächten auf, am Kopfende ihres Bettes oder zu ihren Füßen, in ihrer Brust und in ihren Augen. Wenn sie sich die Haare wäscht, erinnert sie sich jedes Mal an ihren unbarmherzigen Satz: ›Heute kann ich nicht mit dir ausgehen, ich muss mir die Haare waschen.‹
»War Max der Mann, den du am meisten geliebt hast?«
»Ich weiß es nicht. Jede Liebe ist anders.«
»Da sind wir! Ich suche uns einen Parkplatz.«
Plötzlich steht Leonora an einem Wasserbecken mit Delfinen, die vor den Augen einer Gruppe gebannter Zuschauer in die Höhe schießen. Wie Pfeile durchqueren sie das Becken. Sie kommen auf sie zu. Sie springen dem blauen Himmel entgegen, sekundenlang spiegelt die Sonne sich auf ihrem Rücken, versprüht ihre Strahlen, die sie bespritzen wie die Delfine, wenn diese wieder ins Wasser eintauchen, um gleich darauf abermals in die Luft zu springen und mit ihren Entennasen zu lächeln. Leonora lächelt zurück. Sie zollen ihr Respekt: Wie mutig du warst, Leonora, welch große Schlachten du geschlagen hast! Blitzschnell kreisen die Delfine durchs Becken, eine Runde und noch eine und noch eine. Ihre kleinen Flossen sind auch Flügel.
Mit breitem Grinsen verkündet Pepita, Delfine sprächen zu denen, die sie verstehen könnten.
»Ich bin jemand, der Tieren zuhört, diese Gabe habe ich immer gehabt, von klein auf«, erwidert Leonora.
Die Delfine nicken, als würden sie die Fragen eines Prüfers beantworten. Dann spielen sie Verstecken. Begeistert streckt Leonora ihre Hand nach einem der silbrigen Rücken aus.
»Einsamkeit ist für Delfine tödlich«, erklärt Pepita.
»Dann sind sie mir ähnlich«, sagt Leonora, wie um sich selbst zu überzeugen. »Einsamkeit bringt sie um.«
Sie erinnert sich an ihr Pony Black Bess, an ihre Stute Winkie, abermals schaut Tanguito sie an, der Stier, für den sie nichts getan hat, und sie hört wieder das Blöken der Schafe im Bahnhof von Ávila. Winkie wiehert. Sie ist die Stute der Nacht, die Windsbraut. Die Delfine tanzen für sie und pfeifen, ein Laut, der ihr durch Mark und Bein geht, der Laut der Gigantin, die dazu verurteilt ist, den Rest ihres Lebens zu malen, der Gigantin, die hinnimmt, dass Einsamkeit tötet, und bereit ist, vor der Staffelei zu sterben, denn nur in der Einsamkeit ist schöpferische Arbeit möglich, weil man sich in sie versenken muss wie ein Delfin. Auf den Wellen
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