Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Wanken geraten. Dazu kam jetzt auch noch der Bruch mit meinem Vater Lepel, der unwiderruflich schien.
Ich hatte ihm noch einen Brief geschrieben. Ich bekam eine Briefkarte zurück:
»Mir ist noch nicht danach, den Kontakt wiederherzustellen. Ich weigere mich, als Zielscheibe für meine fabulierende Tochter zu dienen …«
Woher jetzt ausgerechnet Hugo Wolf mit dem Jesusknäblein, das noch nicht weiß, welches Leid ihn erwartet? Vielleicht weil es in Wirklichkeit eine Mutter und ihren kleinen Sohn gegeben hatte, in der fernen Vergangenheit: Annetje und ihren ›Neffen‹ Piet.
Aber was hatte das mit Vosseveld zu tun, grübelte ich weiter. Ich sah Oma Annetje wieder in der Diele sitzen, Lepel an ihrer Seite. Ihr leises Gespräch verstummte bei meinem Eintritt. Ich erinnerte mich an meine halbbewusste Verwunderung über ihre Intimität: Oma Annetje war ja Marys Tante, was war sie da eigentlich für ihn? Ich wusste damals nichts über ihre gemeinsame Vergangenheit am Overtoom, die Lepel immer so ängstlich verschwiegen und sogar kategorisch geleugnet hatte.
In meinem Kopf modulierte das Lied Hugo Wolfs zum erlösenden Dur.
Und dort im Walde wonnesam,
Ach, grünet schon des Kreuzes Stamm!
Erlösung, dachte ich. Aber für wen?
Alles hatte sich immer um Ann und Lepel gedreht, um Lepel und Ann. Ich dachte daran, dass Oma Annetje sich mit Großvater nicht nur endlich einen eigenen Ehemann gesichert hatte, sondern auch einen eigenen Sohn. Dazu noch einen, der ihr so zugetan war, dass er für sie bereit war, seine beiden Eltern zu verraten.
Vielleicht war der hingebungsvolle, beeinflussbare Sohn sogar noch wichtiger für sie gewesen als der Vater? Ein Ersatz für das Kind, das sie nie hatte haben dürfen? Wer weiß, vielleicht war er bei dieser doch recht lieblosen Ehe mit Großvater sogar der ausschlaggebende Faktor gewesen.
Die Parallele zur Situation mit Oud drängte sich auf. Auch dort ein Sohn und ein Vater. Den Sohn hatte sie aufgebenmüssen, um sich notgedrungen mit dem Vater zufriedenzugeben. Erst 1939 bekam sie beides: Vater
und
Sohn.
Die Geschichte wiederholt sich immer, nur immer in anderem Gewand. Oft werden Dinge verschoben. Vielleicht hatte dieser Vater – Christiaan – büßen müssen für etwas, was der andere – der alte Oud – Annetje angetan hatte. Oud, der vor langer Zeit gefordert hatte, dass sie das Kind in ihrem Bauch totmachen lassen solle. Gegen Bezahlung.
Blutgeld
. Der alte Oud, der sie am Overtoom verwöhnt, aber auch erniedrigt hatte, und sicher nicht nur mit einem gelegentlichen Kniff in den Hintern.
Der Zorn von Jahren kann aufgeflammt sein, als sie sich erneut in die Enge getrieben fühlte, erneut einem Mann zu Willen sein musste. Diesmal einem, mit dem sie keine gemeinsame Vergangenheit hatte; einem, der sie nicht verwöhnte im Tausch für die Versorgung, die sie ihm bot. Einem, der gewohnt war, sich den ganzen Tag mit sich selbst zu beschäftigen, wie seine Tochter Rita geschrieben hatte.
Dann war der ganze aufgestaute Groll auf Großvaters Haupt gelandet.
Und was hatte ihn so aufgebracht? Die Geldfrage wird sicher mitgespielt haben. Aber was für Oma Annetje so lebenswichtig gewesen war, hatte für ihn wahrscheinlich weniger schwer gewogen als Verrat. Wie wichtig ist Geld für einen Mansborg? Auch ich bin eine Mansborg. Auch ich bin einmal finanziell in großem Stil betrogen worden. Aber das war nichts – nichts – verglichen mit dem Verrat in der Liebe.
Ich stellte mir, die Vosseveldlaan entlanggehend, die Situation vom Juli 1941 noch einmal vor. Lepel war, als sich der fatale Tag näherte, in Arnheim gewesen. Er wurde von Oma Annetje wieder nach Soest gerufen – genau wie vor dem Unfall im April. War er so lang und so oft in Arnheim gewesen, weil er sich nicht entscheiden konnte, für wen er Partei ergreifen sollte in dem Konflikt zwischen seiner Stiefmutterund seinem Vater – oder war er selber vielleicht eine Seite?
»Unangemessener Zorn auf Gattin und Sohn.«
Ich hatte die Ecke erreicht von unserer Allee, die noch immer von einem Blätterdach überspannt wurde. Ann und Lepel, dachte ich. Langsam näherte ich mich. Ich dachte daran, was Hans Oud mir einmal erzählt hatte, in dem alten Haus am Overtoom. Dass er als Junge Oma Annetjes Brüste genossen habe. Ich hatte die Geschichte damals so absurd gefunden, dass ich sie sofort verdrängt hatte. Doch Hans Oud und Lepel waren im selben Jahr geboren. Was, wenn Oma Annetje nicht nur dem kleinen Hans jenen
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