Frau Schick räumt auf
C-4-Umschlag kurz in der Hand und fühlt Panik aufsteigen. Ihre uralte Ich-ende-arm-und-vereinsamt-unter-der-Brücke-Phobie. Ommm! Denk an Pamplona, Nelly, macht sie sich selbst Mut. Pamplona! Genau.
Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben! Ach, Hesse. Und außerdem: Wo Not ist, wächst das Rettende auch … Hölderlin! Versonnen lächelnd schiebt sie den Umschlag in die Dokumentenschublade, als handele es sich um eine Gewinnbenachrichtigung und nicht um ihre vorläufige Bankrotterklärung.
Guter, alter Hölderlin, wunderbarer Hesse. So weise und heilsam. Überhaupt: Gedichte. Soll ich denn einen Sommertag dich nennen, dich, der an Herrlichkeit ihn überglänzt? Shakespeare – ein Gigant der Liebeslyrik. Warum nur hat sie nach dem Studium aufgehört, Gedichte zu lesen?
»Weil dein wahres Leben wenig mit Lyrik zu tun hatte, schon gar nicht in Sachen Liebe«, zerraspelt Ricardas Reibeisenstimme ihren Ausflug in die Dichtkunst. Ricarda besitzt keinen Sinn für die Poesie des Herzens und überdies den zersetzenden Charme von Salzsäure.
Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben, shananananana, summt es trotzig in Nelly. Es klingt ein bisschen wie Ricarda nach einer Flasche Prosecco. Das ist zwar nicht gerade Shakespeare und schon gar nicht Nellys Musikgeschmack, aber trotzdem irgendwie wahr. Vielleicht sollte sie Ricarda, wenn sie nachher wegen der Blumen und des Briefkastenschlüssels vorbeikommt, tatsächlich dieses Lied vorsingen, anstatt sich in die sinnlose Rechtfertigung ihrer genauen Reiseziele in Pamplona zu verstricken. Oder soll sie einfach behaupten, sie gehe jetzt endlich den Jakobsweg? Nein, das wäre feige, und außerdem müsste sie sich dann etwas über Spiritualität aus dem Supermarkt anhören und darüber, dass das Leben keine Wundertüte ist. Besser, sie bleibt bei der Wahrheit, und die hat mit Wein und einem Winzer, aber nichts mit Wallfahrten zu tun.
Statt Prosecco wird sie gleich jedenfalls einen Cava aufmachen. Einen Cava mit feinster, anhaltender Perlage im Mund und einer überaus lebendigen Nase voll Brot- und Hefearomen, mit knackiger Zitrusfrucht am Gaumen und einem auf der Zunge tanzenden Nachklang spanischer Zeder. Dieses Getränk hat keine Süße, hinter der es sich verstecken muss. Cava Tosantos wird aus allerbesten Grundweinen im traditionellen Rüttelverfahren hergestellt. Ein Brut nature von einzigartiger Noblesse. Klingt doch schon ganz gut für eine technische Übersetzerin, die Jahre ihres Lebens an extern gekühlten Abgasrückführungen, verrippten Kurbelgehäusen und Turbodieselmotoren für Traktoren herumgetüftelt hat. Landmaschinen sind komplizierter als Luxuslimousinen und weit weniger beflügelnd als Sekt. Vorbei! Heute fängt ein neues Leben an. Deine Liebe ist schuld daran … shananananana!
» Wie bitte?«, dringt dumpf die Stimme des Pförtners durch die Sprechlöcher in der Scheibe.
Mist! Jürgen Marcus summt nicht mehr nur in ihr herum, sondern aus ihr heraus. »Oh, Sie habe ich natürlich nicht gemeint. Ich singe nur gern«, windet Nelly sich heraus.
»Wir sind hier nicht im Kölner Musical Dome.«
Wenigstens hat sie den richtigen Ton getroffen, um den Mann von seiner Zeitung abzulenken. Er zieht mit einem wütenden Ruck die Dokumentenschublade zu sich hin und greift nach Nellys Umschlag. »Gute Laune, hm? Haben wir hier selten, und wenn, dann ist sie meist vorgetäuscht. Neues Leben, pah!«
Verdammt, ihr ist mehr als nur das »Shananananana« rausgerutscht. In letzter Zeit schalten sich ihre stummen Selbstgespräche manchmal auf Laut. Sie redet oder flucht, ohne es zu merken.
»Solange du nicht mehrstimmig bellst, bewegt sich das im normalneurotischen Bereich«, behauptet Ricarda. Für solche Sätze muss man sie einfach lieben. »Berufstätige Singlemütter, die viel zu tun haben und oft allein sind, reden gern mit ihrer Waschmaschine, andere vertrauen sich dem Toaster an. Ältere Frauen bevorzugen Hunde. Kein Grund also zur Sorge, solange du dir selbst ein angenehmer Gesprächspartner bist. Das Leben der meisten Menschen findet ohnehin nur in ihrem Kopf statt und hat mit der Realität wenig zu tun.«
Als Psychologin muss Ricarda das wissen, aber dass Nelly versehentlich im Finanzamt singt – noch dazu ein Lied von Jürgen Marcus –, das fände sie vielleicht doch therapiebedürftig.
»Na, dann wollen wir uns das mal näher anschauen!« Der Pförtner studiert zur Strafe für ihre Gesangseinlage mit amtlicher
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