FreeBook Robert Musil Drei Frauen
entstellte Börse unter dem Rock am Bein.
Jetzt hatte das Fräulein noch eine Frage: »Wann muß ich gehen?«
»Ja,« meinte der Onkel, »es wird wohl noch ein paar Tage dauern, bis der Haushalt aufgelöst ist; so lange können Sie gewiß bleiben. Aber Sie können auch früher gehen, wenn Sie wollen, wir brauchen Sie ja nicht mehr.«
»Danke,« sagte das Fräulein und ging auf sein Zimmerchen.
Die andern waren inzwischen mit der Verteilung schon beim täglichen Gebrauch angelangt. Sie waren wie Wölfe, die einen gefallenen Kameraden auffraßen, und hatten sich schon gegenseitig gereizt, als er fragte, ob man nicht dem Fräulein, das so wenig Geld bekommen habe, wenigstens ein wertvolles Andenken geben solle.
»Wir haben Großmamas großes Gebetbuch dafür bestimmt.«
»Nun ja, aber etwas Praktisches würde ihr gewiß mehr Freude machen; was ist denn zum Beispiel mit dem da?« Auf dem Tisch lag ein brauner Pelzkragen, den er hochhob.
»Der ist für Emmi«, – Emmi war seine Kusine – »wo denkst du überhaupt hinaus, das ist doch Nerz!«
Er lachte. »Wer sagt, daß man bei armen Mädchen nur der Seele etwas schenken darf? Wollt ihr für knauserig erscheinen?«
»Das laß nur uns über,« meinte jetzt seine Mutter, und weil sie ihm nicht ganz unrecht gab, fuhr sie fort: »Du verstehst es doch nicht; sie wird nicht zu kurz kommen!« Und sie nahm generös und ärgerlich einige Taschentücher, Hemden und Beinkleider der alten Frau für das Fräulein auf die Seite, dazu ein schwarzes Kleid, dessen Tuch noch neu war. »So, das ist jetzt wohl genug. Gar so verdient hat sich das Fräulein ja nicht gemacht, und sentimental ist sie auch nicht: Weder als Großmama starb, noch beim Begräbnis hat sie auch nur eine Träne im Auge gehabt! Also gib, bitte, Frieden.«
»Es gibt Menschen, die schwer weinen; das ist doch kein Beweis« – antwortete der Sohn, nicht weil es ihn wichtig zu sagen dünkte, sondern weil ihn seine Redegeschicklichkeit reizte.
»Bitte ...!?« sagte die Mutter. »Fühlst du nicht, daß deine Bemerkungen jetzt nicht am Ort sind?«
Er schwieg auf diese Zurechtweisung nicht aus Scheu, sondern weil es ihn plötzlich unbändig freute, daß Tonka nicht geweint hatte. Seine Verwandten sprachen lebhaft durcheinander und er bemerkte, wie gut sie damit ihren Nutzen wahrten. Sie sprachen nicht schön, aber flink, hatten Mut zu ihrem Schwall, und es bekam schließlich jeder, was er wollte. Redenkönnen war nicht ein Mittel der Gedanken, sondern ein Kapital, ein imponierender Schmuck; während er vor dem Tisch mit Gaben stand, fiel ihm der Vers ein: »Ihm schenkte des Gesanges Gabe, der Lieder süßen Mund Apoll«, und er bemerkte zum ersten Mal, daß dies wirklich ein Geschenk sei. Wie stumm war Tonka! Sie konnte weder sprechen noch weinen. Ist aber etwas, das weder sprechen kann, noch ausgesprochen wird, das in der Menschheit stumm verschwindet, ein kleiner, eingekratzter Strich in den Tafeln ihrer Geschichte, ist solche Tat, solcher Mensch, solche mitten in einem Sommertag ganz allein niederfallende Schneeflocke Wirklichkeit oder Einbildung, gut, wertlos oder bös? Man fühlt, daß da die Begriffe an eine Grenze kommen, wo sie keinen Halt mehr finden. Und er ging wortlos hinaus, um Tonka zu sagen, daß er für sie sorgen wolle.
Er traf Fräulein Tonka beim Einpacken ihrer Habe. Auf einem Sessel lag eine große Pappschachtel und am Fußboden standen zwei; eine davon war schon mit Bindfaden verschnürt, aber die beiden andern wollten den herumliegenden Reichtum nicht fassen, und das Fräulein studierte und nahm immer wieder ein Stück heraus, um es anderswo hineinzulegen, Strümpfe und Sacktücher, Schnürstiefel und Nähzeug, der Länge und Breite nach versuchte sie es und konnte, so dürftig ihr Besitz war, niemals alles verstauen, denn ihr Reisegepäck war noch dürftiger.
Die Tür ihres Zimmerchens stand offen, und er vermochte ihr eine Weile zuzusehen, ohne daß sie es wußte. Als sie ihn bemerkte, wurde sie rot und stellte sich rasch vor die offenen Schachteln. »Sie wollen uns verlassen?« sagte er und freute sich über ihre Verlegenheit. »Was werden Sie machen?«
»Ich fahre nach Hause zur Tante.«
»Wollen Sie dort bleiben?«
Fräulein Tonka zuckte die Achseln. »Ich werde trachten, etwas zu finden.«
»Wird Ihre Tante nicht ungehalten sein?«
»Für ein paar Monate hab ich ja mein Auskommen und bis dahin werde ich schon eine Stellung finden.«
»Dann geht aber Ihr bißchen Ersparnis
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