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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Özdogan
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Nur nicht alles, was danach geschah. Wenn ich noch einmal hören könnte, wie du an meinem Bett sitzt und singst. Kommt ein Vogel geflogen. Kannst du dich daran erinnern. Immer wieder dasselbe Lied. Alle drei Strophen. Völlig schief.
    Mutter hatte dir längst alles erzählt, worüber ich geschwiegen habe. Aber du hast trotzdem an meinem Bett gesessen und gesungen. Völlig schief. Völlig.
    Und dann ist Mutter morgens einfach nicht mehr aufgewacht. Konnte nicht mehr atmen in diesem Sirup aus Verlangen, Kränkungen, Sehnsucht, Festhalten und Vergessenwollen und Nievergessenkönnen.
    Ich habe dich belogen. Wie kann ein Vater, der sein Kind so schief singen gehört hat, wie kann er ...
    Ich höre es noch, wie du geschrien hast. Ich sehe, wie du strampelst, aber wenn ich aufwache, hört der Alptraum nicht auf. Du hast es geahnt. Ich habe gesagt, es ist nicht für lange, ich habe versprochen, dass ich bald wiederkomme.
    Fünf Jahre sind lang. Und ich kenne meine Schwester. Aber wohin sonst hätte ich dich bringen können? Ein Vater, der in Hauseingängen schläft, in denen es zu kalt ist zum Träumen, und der die Wärme einer Nadel braucht.
    Und dann diese Verachtung, diese Verachtung in deinen Augen. Ich hatte eine Arbeit, ich hatte eine Wohnung, ich hatte mich aufgerappelt, ich hatte an meinen Vater gedacht, ich hatte mich kolossal zusammengerissen, ich stand auf meinen Füßen, aber als du mich angesehen hast, war ich klein, kleiner als du.
    Ich hätte da sein müssen. Ich hätte dich zum Anlass nehmen müssen, da zu sein. Aber es war wie ein großes Gefäß aus Glas. Ich konnte die Menschen draußen nicht berühren. Ich konnte gegen diese Scheibe hämmern, aber niemand sah mich. Niemand hat mich je gesehen. Dabei wollte ich raus, raus und mich beeilen, es richtig zu machen.
    Ich habe mich beeilt und bin überall gestolpert und hingefallen, und ehe ich ganz aufstehen konnte, standest du schon da, bereit, mich zu verachten und auszulachen.
    Weißt du, manche haben ein Händchen für bestimmte Dinge. Sie können singen zum Beispiel. Andere können üben, wie sie wollen, es wird nie richtig gut werden. Aber das heißt nicht, dass sie die Musik nicht mögen. Verstehst du? Verstehst du, manche haben einfach eine dünne Stimme. Sie trägt nicht. Nichts. Verstehst du? Ich habe dich immer ...
    Hättest du es verstanden, wenn ich aufgehört hätte zu schweigen?
     
    26 Knochen
    Es gab nicht so viele Tage, an denen es passierte. Und sie fing nur an, wenn Tante Margit nicht da war. Dann erzählte Mutter manchmal von früher.
    - Früher, sagte sie, da lagen die alle noch selber hier.
    Und als wüsste ich es nicht, fragte ich nach.
    - Auf Liegen?
    - Ja. Damals war unser Laden noch in der Hartwigstraße und wir hatten vier Liegen nebeneinander und manchmal waren alle vier besetzt. Es gab auch noch ein Sofa, auf dem die Leute saßen, bevor sie drankamen. Sie konnten in Zeitschriften blättern und haben Tee bekommen. Ganz früher haben wir auch viel mit den Kunden geredet. Über das Wetter, über das Leben, über die Veränderungen in der Stadt. Oder sie haben gestöhnt vor Wohlbehagen.
    - Gestöhnt, sagte ich, weil ich mir das nicht vorstellen konnte.
    - Ja, gestöhnt, geseufzt, geschnauft, geschnurrt. Da war das Geschäft manchmal voller Menschen und Geräusche.
    Da Mutter nicht mehr weitersprach, fragte ich nach.
    - Und sie haben gestöhnt, solange es die Liegen gab?
    - Nein, nein. Das wurde schon anders, als sie noch lagen. Irgendwann haben die sich Kopfhörer aufgesetzt oder gelesen oder mit Headset telefoniert. Sie haben auf ihren Taschentelefonen Mails getippt. Sie lagen noch auf den Liegen, aber sie waren nicht mehr wirklich da. Und ihre Sohlen wurden weicher. Früher waren die Sohlen härter, aber die Muskeln weicher, dann wurden die Sohlen weicher, aber die Muskeln härter. Gegen Ende kamen die meisten hier herein, als würden sie Schuhe zum Schuster bringen. Sie hatten sich entfernt von ihren Füßen. Motorisierte Sitzsüchtige, sie sind alle motorisierte Sitzsüchtige geworden.
    Ein Fenster ploppte auf und kündigte mit einem Signalton einen Kunden an. Mutter schaute auf den Monitor, dann überspielte sie die Daten des Kunden auf die beiden Silikonfüße, die links neben der Tastatur aus dem Tisch ragten, und begann mit der Arbeit.
    Motorisierte Sitzsüchtige, meine Mutter war der einzige Mensch, der das sagte, die anderen sprachen von mobiler Behaglichkeit. Und Mutter hatte auch nicht Recht, die Zeiten, von denen sie

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