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Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Özdogan
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Wochen oder in drei Monaten. Er war gereizt in dieser Zeit, aber ihm rutschte nie die Hand aus. Er konnte sich ja kolossal zusammenreißen.
    Ich habe dich nie geschlagen. Und mein Vater ist nie in die Kneipe gegangen. diese beiden Sätze nacheinander funktionieren für mich nicht wirklich, sie hängen ja nicht unmittelbar zusammen, oder übersehe ich was? den Satz mit dem Schlagen, kann man den hier nicht rausnehmen? braucht es ihn? Nicht mal sonntags zum Frühschoppen, wie er immer gerne tönte.. Man findet immer ein gutes Haar an sich selbst.
    Vielleicht hat er auch nur zu Hause getrunken, weil es billiger war. Mutter nörgelte ständig, wie wenig Geld wir hatten, dass er es zu nichts gebracht hatte, dass wir ihr noch die Haare vom Kopf fressen würden, meine Schwestern und ich.
    Wenn man draußen nicht fror, saß sie auf dem Balkon, legte die Beine in den Nylonstrumpfhosen hoch und lackierte sich die Fingernägel, während sie rauchte. Sie redete oft mit Passanten, aber ich habe nie mitbekommen, dass sie einen hochholte. Auch wenn Vater sie billige Hure nannte, lange bevor ich verstand, was das hieß. Doch er hat sie nie geschlagen. Es traf immer nur uns Kinder. Und am meisten mich, weil ich der Junge war. Und weil man so lernte, das Leben zu ertragen und sich kolossal zusammenzureißen. vielleicht hier einfügen: Ich habe dich nie geschlagen.
    Fängt unsere Geschichte dort an? Was hätte ich dir erzählen können, was du nicht schon wusstest? Dass ich zu früh zu viel getrunken habe? Dass ich an der Hotelrezeption gearbeitet habe, weil ich mit sechzehn zu Hause Wohngeld abgeben musste, und damit ich den Ernst des Lebens sah und kein verweichlichter Bücherwurm wurde? Dass sie mich im Hotel rausgeschmissen haben, weil sie mich zwei Mal schlafend auf der Toilette gefunden haben?
    Geschichten, bloß Geschichten, über die du gelacht hättest. Was ging dich das an. Meine Eltern waren schon längst tot. Wer wusste, ob ich das nicht alles erfand, die Worte wiederholte, bis ich sie selbst glaubte. Was zählte es da, dass ich dich nie geschlagen hatte?
    Wie hatte ich dich belügen können? Das war, was du nicht verstehen konntest. Wie hatte ich sagen können, dass es nicht lange dauern würde. Fünf Jahre. Eine Ewigkeit für ein Kind.
    Ich hatte schon vorher gelogen. Oder geschwiegen.
    Wie damals, als deine Mutter mich zur Rede stellte. Was hätte ich sagen können? Dabei war ich damals nicht so müde gewesen wie jetzt. Die Worte lagen noch nicht unter den Jahren, Jahren wie Bleiplatten.
    Aber meine Zunge war schwer gewesen. Sie war nicht zu leugnen gewesen, die andere Frau. Aber musste ich deshalb sprechen? Was half es? Ich hatte es versucht. Ich hatte versucht zu sprechen. So wie ich es jetzt auch versuchte. Aber das kann man nicht sehen. Man sieht nur Schweigen. Schweigen. Als könne man aus dem Nichts etwas machen. Aus keinen Wörtern eine Mauer bauen.
    Man kann reden, man kann so viel reden, gegen jede Wand. Man kann so viel reden und eine Stimme ist wichtig, wenn man noch nicht zu beschämt ist, um zu erzählen, wie man sich fühlt.
    War alles meine Schuld? Das Valium, die Ginflaschen, dass alles zerfiel, auseinanderbrach? War es mein Versagen? Sagt das irgendetwas, Versagen?
    Als würdest du versuchen, Sirup eine Form zu geben, so ging es uns. Alles versank in einem klebrigen Brei, in dem man kaum noch atmen konnte, alles klebte, und der Ärger passte sich überall an, er fand einen Weg, wie auch das Wasser und die Einsamkeit immer einen Weg finden. Wir konnten es nicht in Form bringen. Ich konnte es nicht. Es haftete Makel an mir. Er haftet an jedem, den ich getroffen habe. Alle versagen. Dinge sind Dinge, man kann sie nicht geradebiegen, und in jedem Leben laufen sie schief. Mal weniger, mal wie bei uns.
    Jemand fuhr mir hinten drauf, das Auto musste in die Werkstatt, am nächsten Tag steckte die U-Bahn im Tunnel fest wäre es nicht besser, all das, das sich vermutlich auf ihn selbst bezieht, auch so zu schreiben: Jemand fährt mir hinten drauf, das Auto muss in die Werkstatt, am nächsten Tag stecke ich …, am dritten Tag warst du krank und deine Mutter steckte in etwas, das später eine Gedächtnislücke sein würde, am vierten Tag war der Wecker kaputt, am fünften biss mich der Köter des Nachbarn in die Wade, am sechsten verhob ich mir auf der Arbeit den Rücken und am siebten Tag konnte ich nur noch liegen.
    Aber was würde ich dafür geben, immer wieder und wieder diese Woche zu erleben. Nur diese Woche.

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