Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Freikarte fürs Kopfkino

Freikarte fürs Kopfkino

Titel: Freikarte fürs Kopfkino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Selim Özdogan
Vom Netzwerk:
arbeite: Asche zu Asche, Staub zu Staub.
    Aber Frau Rotblatt ist mit ihren fehlenden Tassen beschäftigt, mit Aufmerksamkeit und Liebe und Frieden. Ich will nicht in meiner Vergangenheit leben. Mir ist auch egal, was die anderen welche für Probleme die anderen haben, ich bin bereit mir, das Blau weglügen zu lassen, ich will nur die Luft in meine Lungen und wieder aus ihnen hinaus bewegen.
    Aber dann findet dich eine Schönheitskönigin in einem Kaff in Bayern. Scheiß auf Frau Rotblatt und alle, die nicht zufrieden damit sind, in Bedeutungslosigkeit vielleicht besser: unsichtbar unsichtbar zu leben.
     
    Verlorene Versprechen
    Ich war voller Zweifel, wie ich eine Hand oder einen Fuß bewegen sollte, und ich musste nachdenken, bevor ich zu sprechen begann, weil es so viele Wörter gab, aus denen man wählen musste, und so viele von ihnen waren ausgelacht und verhöhnt worden. Sobald ich den Mund aufmachte, wurdest du ungeduldig, also sprach ich immer weniger. Ich saß auf dem alten braunen Sofa, die Ellenbogen auf den Knien, den Rücken rund. Du standest vor dem Fenster, die Zigarette zwischen den Fingern, ich sah deine Turnschuhe, die Unruhe.
    Wir waren schon so oft hier gewesen. Wie zwei Schauspieler, die wieder und wieder diesselbe Szene improvisierten. Aber ich war müde. Ich war müde wie jemand, der unter Schlaflosigkeit leidet. Meine Augen waren rot und ich atmete ein.
    - Weißt ...
    Doch mehr wollte schon nicht mehr aus meinem Mund. Das war nicht der richtige Anfang. Ich wollte nicht sprechen, ich wollte die Szene umschreiben. Das wolltest du auch, warum sonst hättest du in meinem Wohnzimmer gestanden? Das wolltest du auch. Auch wenn du es vielleicht nicht wusstest.
    - Was weiß ich? Was soll ich wissen?
    Die Wörter waren verbraucht. Sie waren älter, als ich es war, und sie waren müder. Wir hatten sie alle schon so oft benutzt. Sie hatten keine Kraft mehr. Oder war ich das?
    Wie groß du warst das ist der erste Hinweis, dass es eine Szene zwischen Vater und Kind ist, aber er ist sehr dezent, mir ist er erst beim zweiten Mal lesen deutlich geworden. Vielleicht wäre es sinnvoll, ihn zu verstärken, oder einen zweiten einzubauen, damit man nicht dem Irrglauben erliegt, ein Paar würde sich hier gegenüberstehen?. Und wie oft ich dich schon im Stich gelassen hatte. Und wie viel Worte ich dafür gefunden hatte. Wo waren sie nun? Ausflüchte, Rechtfertigungen, Vorwände, Abbitten, Auswege, Finten, Schwindel und Lügen. Wie kann man sich abwenden von einem Kind?
    Und all die guten Vorsätze, die Absichten, die Ziele und Wünsche. Die Versprechen. Die Versprechen, von denen du sagtest, sie seien leer gewesen. Leer. Voll. Halbleer. Halbvoll.
    So war es nicht. Nicht mit den Gläsern und nicht mit den Versprechen. Das Glas war größer als sein Inhalt. Und das Leben war zu groß für meine Versprechen. Sie gingen einfach darin verloren.
    Wenn ich das gesagt hätte, hätte es wieder nach einer Ausrede geklungen. Du hättest gesagt, ich sei einfach immer noch nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen. Aber ich war zu klein. Zu klein für dieses Leben.
    Ich weiß nicht mehr, ob Worte diese Geschichte überhaupt erzählen können. Ob sie einen Anfang finden können. Nicht als Entschuldigung. Nicht als Erklärung. Nur, um diese Müdigkeit zu beseitigen. Diese Schwere. Nur um einen Moment lang der Schuld und der Scham einen Namen zu geben.
    - Es ist ... meine Schuld.
    - Ja, sagtest du, heute also wieder diese Leier, ja? Es ist ja alles meine Schuld. Und du zerbrichst unter dieser Last. Wieso? Wieso geht es immer nur um dich? Was ist mit meiner Last? Wie konntest du? Hast du auch mal an uns gedacht? Deine Schuld, dass ich nicht lache.
    Ich sagte doch, alles, was meinen Mund verließ, war falsch. Wenn man so lange die falschen Dinge getan und gesagt hat ... wie ... ich weiß nicht ... wie ...
    Du wusstest alles. Du wusstest, dass mein Vater Briefträger war. So war er immer schon betrunken, wenn ich aus der Schule kam. Meistens ging er vor mir zu Bett. Der Geruch, die Schläge, wie er der Länge nach hinfiel. Es ist alles so weit weg. So weit.
    Auch die Wochen, in denen er sich kolossal zusammenriss, wie er sagte. Wie er dann rauchte. Ernte 23, eine nach der anderen. Wie schlecht er aussah, wie grau seine Haut dann wurde und wie tief die Ringe unter den Augen. Wie er bis Sendeschluss fern sah und wie vorsichtig wir dann immer waren, weil man nicht sagen konnte, wann er wieder anfangen würde, in zwei Tagen, in zwei

Weitere Kostenlose Bücher