Freikarte fürs Kopfkino
anderen auch so. Sie ist die Brille, durch die man seinen Nachbarn betrachtet, sie ist es, die einem Seile und Ketten gibt, Klebestreifen und Stacheldraht, damit man seine Liebsten nicht verliert. Sie füllt die Vorratskammern, sie treibt einen von einer Sprosse zur nächsten, sie lässt einen überhaupt erst in Sprossen denken, sie vergrößert die Augen, sie schärft die Aufmerksamkeit. Sie lässt die Menschen wagemutig erscheinen. Sie gibt Kraft, Hindernisse zu überwinden. Sie das Feuer unter dem Arsch der Menschheit.
- Was geht anderen auch so? Wovon reden Sie?
- Wovon wohl?
Sie lächelte mich an, herzlich. Was wollte sie von mir? Warum konnte ich nicht in Ruhe am Fluss sitzen? Warum zog ich solche Menschen an? Was war nur falsch mit mir?
- Ich bin nicht verrückt, sagte die Frau nun. Ich bin ganz gerade. Doch wenn man gerade Sachen sagt, dann denken die Leute, man wäre verrückt. Wovon rede ich? Sie versteckt sich hinter jedem Kuss, jedem Tanz, jedem Rausch. Man verwechselt sie mit Einsamkeit oder Sehnsucht, und weil sie immer bei einem bleibt, glaubt man irgendwann, sie wäre ein fester Grund.
Ich hätte ihr am liebsten meine Geschichte ins Gesicht geschmissen und wäre gegangen. Was stellte sie mir hier für Rätselfragen?
- Von der Angst rede ich, sagte sie. Man glaubt, man hinge an einem Seil und unter einem in der Grube warten schon die Löwen. Und oben nagt eine Maus an dem Seil. Dabei weiß man nicht, ob es eine Maus gibt. Eine Grube. Löwen. Man weiß nicht mal, ob das Seil, an das man sich klammert, das einzige ist, oder ob man noch von anderen gehalten wird, ohne dass man es merkt. Aber wie soll man es auch merken, wenn man sich mit beiden Hände an ein einzelnes Seil klammert? Es ist genauso sinnvoll, als würde man fürchten, morgens aufzuwachen und die Hände und Füße wären verschwunden.
Was weißt du denn schon?, hätte ich sie am liebsten angeschrien. Hier geht es nicht um Hände und Füße. Hier geht es um ein Leben.
- Vertrauen, sagte sie, man vertraut darauf, dass man morgens aufwacht und die Hände und Füße sind noch da. Vertrauen ist das Gegenteil von Angst. Und nicht etwa Mut. Man vertraut darauf, dass die Atmung weitergeht, auch wenn man nicht darauf achtet, man vertraut darauf, dass genug Luft da ist. Und es ist immer Luft da. Wie in einer Flöte. Es ist Luft drin, auch wenn sie gerade nicht gespielt wird. Man muss vertrauen. Jeden Abend, bevor man einschläft. Viele tun das, ohne es zu wissen. Sie vertrauen. Aber es ist für alle interessanter, sich an einem Seil festzuhalten. Oder sich davor zu fürchten, dass die Flöte leer ist. Es ist genug da. Auch, wenn du das nicht glaubst.
Sie duzte mich. Es war ein wenig, als wäre ich in einem Traum, wo sich die Dinge plötzlich und ohne Logik ändern. Meine Wut war auf einmal verschwunden und ich suchte in mir nach den Resten. Mir war, als hätte ich die Frau schon einmal irgendwo gesehen. Doch wo hätte das sein sollen?
Ihre Worte waren bloß Worte, aber die Ruhe, mit der sie sie sprach ... Sie kamen vielleicht aus einem Vertrauen. So wie ihr Blick. Ich fühlte mich gegen meinen Willen getröstet. Auf eine Weise, die mir vertraut erschien, die ich aber nicht einordnen konnte.
- Du kannst dich nicht an mich erinnern, stellte die Frau fest. Ich bin nicht verrückt. Ich spreche nicht einfach so Menschen an und versuche einen Kontakt herzustellen. Ich bin Krankenschwester. Ich habe dich gesehen, als du auf dem Gang aus der Narkose aufgewacht bist. Und als ich dich hier sitzen sah, mit diesem Gesicht, da konnte ich mir leicht ausrechnen, was los war. Ich bin nicht verrückt, aber ...
Sie steckte ihre Hand in die Tasche ihrer Strickjacke und holte eine kleine Holzdose hervor, auf deren Deckel eine Schildkröte war.
- Nimm diese Dose, sagte sie. Sie wird dir helfen, auch wenn du nicht daran glaubst. Du darfst aber nicht reinschauen, bevor die drei Monate vergangen sind. Es ist nur eine Dose und ich bin weder verrückt, noch abergläubisch, aber sie wird dir helfen. Glaub mir.
Sie legte die Dose in meine Hand und schloss meine Finger darum. Ich konnte mich nicht erinnern, in einem Gang aufgewacht zu sein. Ich war erst im Zimmer zu mir gekommen.
- Warum ... Warum hast du einen Handstand gemacht?
Man stellt nicht die Fragen, die man stellen möchte.
- Man wird getragen, sagte sie.
In ihrer Jackentasche klingelte ein Mobiltelefon. Ohne dranzugehen stand sie auf und gab mir die Hand.
- Ich muss ..., sagte sie. Gott segne
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