Freimaurer, Illuminaten und andere Verschwörer
zweifelhaft.
Der italienische Slawist Cesare de Michelis kam nach einer akribischen Untersuchung der frühesten verfügbaren russischen Ausgaben der
Protokolle
zu dem Ergebnis, dass es wahrscheinlich kein französisches Original gegeben hat. Vielmehr wurde die Urschrift seiner Auffassung nach in russischer Sprache verfasst, und zwar wegen der auffälligen Ausdrucksweise vermutlich von einem Südrussen oder Ukrainer. Außerdem wären die
Protokolle
kaum geeignet gewesen, dem Finanzminister zu schaden. Dafür waren sie zu langatmig und zu verworren. Die Einführung des Goldstandards (Bindung der Währung an den Goldpreis), eines der zentralen Projekte von Witte, erscheint zwar in den
Protokollen
als perfide Erfindung der Juden, aber an sehr unauffälliger Stelle. Hätte Ratschkowski Witte wirklich angreifen wollen, hätten ihm bessere Mittel zu Gebote gestanden. Im Übrigen war Ratschkowski ein Protegé von Witte, und Wittes Sturz hätte ihm sehr schaden können. Angesichts
der verschachtelten Intrigen in der russischen Regierung und am Zarenhof wäre es zwar denkbar, dass Ratschkowski heimlich die Seiten gewechselt hatte, aber letztlich ist das Szenario nicht unbedingt überzeugend.
Waren die
Protokolle
vielleicht ausdrücklich als Fortsetzungsgeschichte für die Zeitung
Znamja
geschrieben worden, um das kränkelnde Blättchen interessanter zu machen? Möglich wäre es: Die
Protokolle
gliedern sich in 24 einzelne Sitzungen, die inhaltlich abgeschlossen sind. Ihrer Form nach sind die
Protokolle
durchaus als Fortsetzungsgeschichte geeignet. Es gibt allerdings keine konkreten Hinweise darauf, dass sie tatsächlich vom Herausgeber der Zeitung in Auftrag gegeben wurden.
Znamja
profitierte auch nicht vom Abdruck der
Protokolle:
Die Zeitung blieb unbedeutend und wurde bald eingestellt.
Zwei Jahre später, im Dezember 1905 , veröffentlichte Sergej Nilus eine erweiterte und aktualisierte Version der
Protokolle
. Es war weder die erste noch die einzige Ausgabe, aber die bekannteste und am häufigsten übersetzte.
Der Inhalt
Formal handelt es sich bei den
Protokollen
um 24 einzelne »Sitzungen«, die wiederum in unterschiedlich viele Abschnitte gegliedert sind. Ein anonymer Redner stellt darin das Programm einer Organisation vor, die er in einer kurzen Vorrede »unser Bund« nennt, ohne sie näher zu beschreiben. Er gibt sich indirekt als Jude zu erkennen, weil er zwischen »uns« und »den Gojim (Nichtjuden)« unterscheidet. Ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen den Sitzungen und selbst zwischen den Abschnitten fehlt in vielen Fällen, ein logischer Aufbau ist nicht auszumachen. Die Texte sind als Vortragsmanuskripte mit persönlicher Anrede der Zuhörer gestaltet.
Der anonyme Vortragende lässt sich in den ersten zwölf Sitzungen im Wesentlichen über den Niedergang der christlichen Staaten
aus, die Schwäche des Königtums und die Einführung der Demokratie. Er behauptet, die Juden hätten all dies zur Schwächung der Nichtjuden absichtlich verursacht. Dagegen lobt er die Zarenherrschaft:
»Nur eine von Jugend an zur Autokratie erzogene Persönlichkeit kann die Prinzipien der großen Richtlinien der Staatskunst erkennen und anwenden.«
Der russische Zar war ein sogenannter Autokrat, ein unumschränkter Alleinherrscher. Über die Demokraten sagt er dagegen:
»Sie werden kein anderes Ziel erreichen, als das ganze Volk zu verderben.«
Der Autor lässt den Vortragenden alle Schrecken der Moderne aufzählen, genauer gesagt: alles, was ein reaktionärer russischer Monarchist zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts dafür hielt.
Dazu gehört unter anderem: die Herrschaft der Massen, die Macht von Gewerbetreibenden und Industrie, der Reichtum von Banken und Spekulanten, die Bestechlichkeit der Beamten, der Niedergang des Adels, die Schwäche des Zaren, die zersetzende Wirkung von Marx, Darwin und Nietzsche, die Pressefreiheit, der gewachsene Einfluss der Liberalen, das unverschämte Auftreten reicher Emporkömmlinge. Das alles schreibt er dem Einfluss der Juden zu, die damit die Nichtjuden schwächen und ihre Weltherrschaft vorbereiten wollen.
Über die Methoden zur Erlangung der Weltherrschaft äußert er sich widersprüchlich:
In der dritten Sitzung sollen aufgehetzte Massen allen Widerstand hinwegfegen, in der fünften Sitzung dagegen soll das Volk mittels endloser Reden, dem Säen von Streit und der Erziehung zur Entschlusslosigkeit so lange ermüdet werden, bis es freiwillig die Herrschaft an den Judenkönig
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