Freiwild Mann
schön unter der dünnen Schneedecke. Die Szenerie sah unglaublich traurig aus. Hier war vor Jahrhunderten eine blühende kleine Gemeinde gewesen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es vor langer Zeit hier abends an einem Tag im Spätherbst ausgesehen haben könnte. Lichter in den Fenstern, Rauch, der aus den Kaminen aufstieg, Kinder, die noch einige Minuten des Spiels vor dem Schlafengehen ergatterten, vielleicht fröhliche Klänge aus dem Gasthaus, Frauen, die ihr Tagewerk vollendeten, bevor sie sich für ein oder zwei Stunden entspannen konnten, um dann in ihr warmes Bett zu gehen, in den Armen ihrer Ehemänner einzuschlafen. Liebende, die sich bei Sternenlicht umarmten. Vielleicht ein Hund, der den Mond anheulte …
Diarmid stand neben ihr, einen Arm um ihre Schultern gelegt, und ahnte ihre Gedanken. „Das war einmal eine sehr unschuldige Welt“, sagte er. „Unsere Vorfahren hatten ganz bestimmt auch ihre Probleme, aber sie waren eingebettet in den natürlichen Verlauf der Dinge. Damals haben Männer und Frauen gut zueinander gepaßt. Sie hätten den Alptraum, der dann kam, nicht für möglich gehalten … Ich suche eine Hütte mit Dach – oder einem halben Dach – und einem Kamin. Geh zurück ins Frauto, Rura, dann bist du im Warmen.“
„Ich will bei dir bleiben.“
„Dann soll auch mir das eine Freude sein.“
Sie fanden eine Hütte mit Dach. Sie hatte weder Fenster noch Türen, aber sie hatte einen funktionierenden Kamin und ein Dach.
„Bring das Essen und die Decken“, sagte Diarmid. „Ich suche ein wenig Holz. Heute nacht machen wir ein großes Feuer. Wir werden uns rösten, uns den Bauch vollschlagen und dann wie die Steine schlafen. Morgen arbeiten wir uns ins Inland vor, und dann finden wir ein Haus, das deinen kühnsten Träumen entspricht.“
„Ich hatte ein Haus, das meine kühnsten Träume übertroffen hat.“
„Es gibt noch andere Häuser in dieser Gegend. Schottland ist noch nicht so arm, daß es nicht seinen Kindern Schutz gewähren könnte.“
Diarmid fand ein paar Balken, die schneebedeckt und vom Zahn der Zeit stark angenagt waren. Es war leichter, sie auseinanderzubrechen, als sie zu zerschneiden; aber sie brannten gut. Sie krachten und zischten und warfen Funken, und sie gaben der elenden Hütte eine Art Leben. Die Ratten, die solchen Lärm und solche Hitze nicht gewohnt waren, huschten davon. Rura kochte Wild, Pilze und Äpfel. Das Essen schmeckte gut.
Schließlich schliefen sie – in voller Kleidung, vor dem ersterbenden Feuer, in zerrissene Decken gewickelt, auf Schaffellen.
Mit dem ersten Licht stand Diarmid auf, streckte sich. „Heute“, versprach er, „finde ich eine Wohnung, die dir gefällt.“
Sie glaubte ihm nicht. Aber seltsamerweise fand er sie tatsächlich.
Es war ein sehr kleines Haus, nur zwei winzige Räume waren darin. Eine Tür gab es nicht. Auch keinen Keller, und die Fenster waren kahle Löcher. Aber das Dach war dicht, und die Wände waren dicht, und der Steinboden war nicht allzusehr zerklüftet. Es war etwas daraus zu machen. Es war nicht wie Lindsays Zuflucht, vergangenheitsträchtig, mit einem Inhalt, der ihm eine eigene Identität gegeben hätte. Es war nur eine blanke Steinhütte, die Wind und Wetter standgehalten hatte. Vielleicht hatte sie früher einmal einem Förster gedient. Sie war im Wald gelegen, wie Lindsays Zuflucht. Und sie war nicht mehr als vier oder fünf Kilometer vom Meer entfernt.
Diarmid erledigte einige völlig überraschte Ratten und machte dann ein Feuer, das warm und laut genug war, um auch das restliche Ungeziefer aus der Hütte in den Wald zu vertreiben. Rura brachte die Dinge, die sie mitgebracht hatten, aus dem Frauto in die Hütte. Waffen, Kleidung, Nahrung – und der Luxus einiger Bücher und einiger spröder Zettel.
Die Fenster mußten mit Fellen abgedeckt werden, und Felle mußten auch über den Eingang gehängt werden, bis Diarmid etwas Besseres hergestellt hatte. Dieser Ort würde MacDiarmids Versprechen heißen müssen, überlegte sich Rura. Er hatte keine Geschichte.
Es taute, und der Schnee schmolz schnell. Das Tauwetter brachte einen wundervollen Geruch in den Wald, es roch nach Leben. Ruras Laune stieg wieder. Diarmid hatte recht. Ihr Zuhause war der Platz, den sie in ihr Zuhause verwandeln konnten. Bald würden sie den Wald und die Küste auskundschaften nach Wild und Fischen, und bald würde sie sich hier zu Hause fühlen.
Rura verbrachte die restlichen Tagesstunden damit, die Hütte so
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