Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
weil Lydia zu ihrem Untersuchungstermin nicht erschienen ist.
»Ich fand Ihre Schwester in den letzten Wochen leicht verändert. Manchmal wirkte sie abwesend, als seien ihr die Untersuchungen nicht wichtig. Als ich sie darauf angesprochen habe, meinte sie, ich solle mir keine Sorgen machen. Es sei alles in Ordnung.«
»Werden Sie sie von der Warteliste streichen?«
»Ich werde mit meinen Kollegen darüber reden. Ein bis zwei Rückfälle tolerieren wir in der Regel schon, aber es kann bedeuten, dass Ihre Schwester ihre Position auf der Warteliste verliert und weiter nach unten rutscht.«
»Immerhin ist nicht alles verloren …«
»Wenn es wieder zu Überschreitungen kommt, wird sie von der Liste gestrichen. Bei der Knappheit der Spenderorgane müssen wir uns ganz und gar auf die Kooperationsbereitschaft unserer Patienten verlassen können.«
»Ja …«
»Was erschwerend hinzukommt, ist die Tatsache, dass eine Reise nach Indien für den Zustand Ihrer Schwester sehr belastend sein wird, zumal sie sich vermutlich nicht hat impfen lassen und auch auf Malariaprophylaxe verzichtet hat, alles Dinge, die man schon als gesunder Mensch vernünftigerweise vor einer solchen Fahrt unternimmt.«
»Ich weiß …«
»Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Schwester nicht nach Indien gefahren ist, sondern sich noch in Hamburg aufhält?«
»Was?«
»Vielleicht will sie nur für kurze Zeit irgendwo untertauchen, um mal nicht Patientin zu sein. Das haben wir schon erlebt.«
Lydia in Hamburg. Der Gedanke lässt mich nicht los. Ich rufe Judith an.
»Lydia ist alles zuzutrauen. Vielleicht ist sie zu Chris gezogen.«
»Wissen Sie, wo er wohnt?«
»Nein.«
Ich verbringe Stunden mit der Suche nach der Adresse von Chris. Schließlich habe ich den Manager der Band am Apparat.
»Ich bin nicht befugt, Angaben zum Aufenthaltsort der Bandmitglieder zu machen.«
»Es geht um meine Schwester Lydia, die Freundin von Chris. Sie ist krank. Ich muss dringend mit ihr sprechen.«
»Das kann ja jeder sagen.« Er legt auf.
Merle erzähle ich nichts von meinen Nachforschungen. Anfangs fragt sie jeden Tag nach ihrer Mutter, danach zieht sie sich mehr und mehr in sich zurück. Spricht nur mit Bakul über ihre Mama. Sie hat nicht angerufen. Hoffentlich geht es ihr gut. Bald ist Weihnachten.
Jan gelingt es am ehesten, Merle etwas aufzumuntern. Er hat beschlossen, ihr Klavierunterricht zu geben, um die Zeit bis Januar zu überbrücken, wenn sie anfangen wird, bei der jungen Pianistin Stunden zu nehmen. Merle übt jeden Tag, spielt eine Stelle wieder und wieder, bis sie keinen Fehler mehr macht.
»Mama wird sich freuen, wenn sie wiederkommt und ich ihr was vorspielen kann«, sagt Merle eines Abends.
Es klingt, als könne sie die Rückkehr ihrer Mutter herbeiführen, wenn sie nur intensiv genug übt.
Auch Esther bemüht sich, uns die Wartezeit zu erleichtern. Wir telefonieren jeden Tag. Irgendwann schlägt sie vor, es wieder mit einem Treffen zu viert zu versuchen. Ich erzähle Merle, dass sie damals recht hatte. Ann-Kristin wollte ihre Anziehsachen nicht verleihen. Mütter könnten auch Fehler machen.
Wir spielen Spiele, die beiden Mädchen tauen auf. Merle ist für ein paar Stunden abgelenkt.
Ich dagegen schaffe es nicht mal bei meinen Läufen, an etwas anderes zu denken als an Lydia. Ist sie in Hamburg oder in Indien? Wie kann sie glauben, ein Heiler könnte sie durch Handauflegen und gemurmelte Sprüche wieder gesund machen? Natürlich gibt es psychosomatische Erkrankungen, bei denen menschliche Zuwendung heilsamer ist als Medikamente. Aber wie soll ein Heiler eine Leberzirrhose kurieren?
Und wenn Jan mit seiner Vermutung recht hat? Dass Lydia spürt, sie wird bald sterben?
Merle kommt weinend aus der Schule. Ein Junge aus ihrer Klasse hat gesagt, ihre Mutter habe eine böse Krankheit und deshalb wolle er nicht mehr mit ihr spielen. Mein Herz sinkt.
Ich rufe Frau Rathjens an. Sie ist entsetzt, verspricht, mit der Mutter des Jungen zu reden. Niemals wird sie dulden, dass in ihrer Klasse Gerüchte über Ansteckungsgefahren verbreitet werden.
»Die Situation ist für Merle schon schwierig genug«, sage ich und erzähle ihr von Lydias Verschwinden.
Frau Rathjens erschrickt. Einen Augenblick lang schweigen wir beide.
»Gibt es etwas, was ich für Merle tun kann?«
»Sagen Sie am besten nichts. Sie spricht auch mit mir nur selten über ihre Mutter.«
34.
I ch wünsche, Weihnachten würde in diesem Jahr ausfallen. Merle hat
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