Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
aufgehört, die Türen ihres Adventskalenders zu öffnen. Eine grünbemalte Spanschachtel und ein rotbemalter Holzteller stehen auf dem Fußboden neben ihrem Bett. Sie sollten mit einem weißen Kringelmuster verziert werden. Merle ist über die ersten Kringel nicht hinausgekommen.
Beim Abendbrot sitzt sie mir schweigend gegenüber. Soll ich ihr vorschlagen, auf den Weihnachtsmarkt zu gehen? Oder in ein Weihnachtsmärchen? Oder in die Kinderoper?
»Tante Franka?«
»Ja?«
Sie schaut mich direkt an. Ich will wegsehen, zwinge mich, es nicht zu tun.
»Wird Mama wiederkommen?«
Das Blut steigt mir in den Kopf. »… Ja, Merle, ja … deine Mama … hat doch geschrieben, dass sie … Heiligabend wieder da sein wird …«
Sie nickt.
Was für eine gestammelte Antwort auf eine klare Frage.
»Ich koche Heiligabend was für uns«, sagt Jan.
»Und wenn Lydia nach ihrer Rückkehr andere Pläne für Merle hat?«
Er zögert. »Dann werden wir auch eine Lösung finden. Vielleicht feiern wir alle gemeinsam.«
»Ich versuche immer noch, davon auszugehen, dass sie Heiligabend wieder da ist …«
»Ja …«
Er glaubt es nicht, das sehe ich ihm an.
»Sie haben sicher Rückflugtickets gebucht«, sage ich. »Andererseits würde ein Rückflugticket Lydia nicht davon abhalten, länger zu bleiben. Wenn sie das Gefühl hat, dass sie noch mehr Zeit bei dem Heiler verbringen sollte. Chris würde das bestimmt mitmachen. Geld scheint keine Rolle zu spielen.«
»Fragt Merle dich, ob Lydia wiederkommen wird?«
»Ja, gestern hat sie mich gefragt, zum ersten Mal.«
»Mich auch, schon vor ein paar Tagen.«
»Was hast du ihr geantwortet?«
»Dass ich es nicht weiß.«
»Jan, willst du Merle jegliche Hoffnung nehmen?«
»Nein, aber ich will sie vor dem Absturz bewahren, falls Lydia nicht wiederkommen sollte.«
»Das finde ich völlig verkehrt.«
»Mag sein.«
»Hat sie irgendwas darauf gesagt?«
»Ja …«
»Was?«
»›Ich kenne Mama. Sie will wiederkommen, weil sie mich liebhat. Aber vielleicht geht’s nicht …‹«
Plötzlich schäme ich mich. Zu wenig Mut, Merle Rede und Antwort zu stehen.
»Ich habe sie gefragt, ob sie Angst hat, dass ihre Mama in Indien stirbt. Sie hat genickt und geweint. Und dann hat sie gesagt …«
Jan hat plötzlich Tränen in den Augen.
»Was?«
»›Lieber in Indien als hier. Mama hat sich immer gewünscht, in Indien zu sterben.‹«
Am 22. Dezember finde ich zwischen der Weihnachtspost eine Karte aus Varanasi. Beim Anblick der bunten Szene am Ufer des Ganges wird mir fast schlecht. Mir war nicht bewusst, wie sehr ich mich an die Hoffnung geklammert habe, Lydia möge irgendwo in Hamburg sein.
Die Karte ist an Merle gerichtet. Schreibt Lydia etwas Beunruhigendes? Nein, da ist vom intensiven Licht die Rede, das so schön sei.
Kannst Du Dich daran erinnern? Die Saris der Frauen leuchten gelb, orange, rot. Ich habe viele Äffchen gesehen, eine Kobra und eine Elefantenmutter mit ihrem Jungen. Bakul habe ich leider nicht getroffen, aber dafür haben Chris und ich andere, sehr liebe Menschen kennengelernt. Der Heiler ist ein wunderbar weiser, alter Mann, dem ich sofort vertraut habe. Er ist sehr zuversichtlich, dass ich wieder gesund werde. Ich freue mich auf Heiligabend. Bis dahin alles Liebe, auch an Deine Tante Franka und an Jan. Es umarmt und küsst Dich Deine Mama.
Als ich Merle die Karte gebe, ist sie plötzlich wie verwandelt. In zwei Tagen wird ihre Mama wieder da sein, sie können zusammen Weihnachten feiern, alles wird gut. Immer wieder muss ich ihr den Text vorlesen, sie kann ihn längst auswendig, spricht die Worte mit.
Singend hopst sie durch die Wohnung, ruft Elisa an, öffnet blitzschnell die neun Türen ihres Adventskalenders, die seit Lydias Abreise verschlossen geblieben sind.
Später holt sie ihre Farbtöpfe hervor, versieht die Schachtel und den Teller mit dem fehlenden Kringelmuster. Abends backen wir zusammen Plätzchen. Das habe ich seit meiner Kindheit nicht mehr getan.
Lydia ist wieder da!, schreit Mutter ins Telefon. Aha, sage ich. Wie lange war sie weg? Drei Jahre, zwei Monate und fünf Tage, antwortet Mutter, ohne zu zögern. Die ganze Zeit in Marokko? Nein, überall in Afrika. So ein interessanter Kontinent. Das mag sein, sage ich. Und wie geht es jetzt weiter? Jetzt wohnt sie bei mir, sagt Mutter stolz. Päppelst du sie wieder auf? Das hat sie nicht nötig. Ihr geht’s gut. Willst du sie mal sprechen? Nein danke, sage ich und lege auf.
Drei
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