Fremde Schwestern: Roman (German Edition)
geheilt worden, die von normalen Ärzten längst aufgegeben worden waren. Tief in meinem Innern spüre ich, dass dies für mich besser ist als eine Lebertransplantation, die so gefährlich ist und vor der ich von Anfang an Angst gehabt habe. Ich muss meinen eigenen Weg gehen! Es fällt mir schwer, denn ich weiß, dass Ihr Euch Sorgen um mich machen werdet. Aber glaubt mir, es ist der richtige Weg!
Ich fahre zusammen mit Chris, der mir diese Reise schenkt, weil er mich liebt und mir helfen will, wieder gesund zu werden. Vielleicht habt Ihr bisher gedacht, Chris ist einer, der kommt und wieder geht, so wie frühere Freunde von mir. Aber das stimmt nicht. Chris ist meine erste große Liebe!
Heiligabend sind wir zurück. Darauf freue ich mich schon sehr. Ich denke ständig an Euch. Passt gut auf Euch auf!
Es umarmt Euch Eure Mama und kleine Schwester, die Euch immer liebhaben wird.
P. S. Merle, wenn ich Bakul sehen sollte, werde ich ihn von Dir grüßen.
Ich schaue hoch und blicke in Merles blasses Gesicht.
»Was ist das für ein Heiler?«, fragt sie leise.
»Ich weiß nicht …«
»Und wenn es jetzt eine Leber für sie gibt?«
»Das ist nicht sehr wahrscheinlich.«
Trotzdem wird es Probleme geben. Lydia hat den Behandlungsvertrag gebrochen. Wird man sie sofort von der Warteliste streichen? Oder darf sie sich einen Rückfall leisten?
Nicht mal Judith hat von Lydias Reiseplänen gewusst. Lydia habe zwar oft von Indien geschwärmt, aber von einer konkreten Fahrt dorthin sei nie die Rede gewesen.
»Bevor sie Chris kennengelernt hat, gab’s ja auch niemanden, der so was bezahlt hätte«, meint Katja.
»Mit dem Krankenhaus wird’s schwierig werden«, sagt Judith. »Wenn Lydia nicht zu ihrer nächsten Untersuchung erscheint und die Ärzte erfahren, dass sie in Indien ist, kann sie die Transplantation vergessen.«
Merle bricht in Tränen aus. Ich nehme sie in die Arme und versuche, sie zu beruhigen. So sicher sei das nicht.
Aber Merle hat begriffen, dass Lydia durch diese Reise ihre Chance aufs Spiel setzt, jemals wieder gesund zu werden.
Lydia ist weg! Mutter steht vor meiner Wohnungstür, bleich, zitternd, kurz vor dem Kollaps. Komm rein, sage ich. Ich habe deine Adresse aus dem Telefonbuch, sagt Mutter. Von dir erfahre ich ja nicht, wenn du umziehst. Ich habe im letzten Jahr Examen gemacht und hatte keine Zeit für meine kranke Verwandtschaft, sage ich und schließe die Tür. Lydia ging es so viel besser, sagt Mutter und sinkt auf mein Sofa. Sie hatte wieder zugenommen und war sehr optimistisch, was die Zukunft angeht. Aha, sage ich. Sie nimmt keine Drogen mehr, sagt Mutter. Ob du’s glaubst oder nicht. Eher nicht, sage ich. Vielleicht brauchte sie einfach einen Tapetenwechsel, sagt Mutter. Wieso Tapeten?, frage ich. Lydia haust auf der Straße. Nein, in den letzten sechs Monaten hat sie bei mir gewohnt, sagt Mutter triumphierend. Hast du ihr wieder Hühnersuppe gekocht?, frage ich. Genau, sagt sie und lächelt.
Vier Wochen später ruft Mutter mich an. Lydia hat mir eine Postkarte geschickt. Aus Marokko. Wie schön, sage ich. Es geht ihr gut, sagt Mutter. Du kannst dir nicht vorstellen, wie glücklich ich bin. Doch, sage ich. Das kann ich.
33.
M erle will nichts essen. Sie geht ins Bett, rollt sich zusammen, macht das Licht aus.
Jan hat an diesem Abend ein Konzert. Ich erreiche ihn erst um halb elf. Seine Stimme klingt nicht sehr überrascht.
»Hast du es etwa gewusst?«
»Natürlich nicht. Aber ich habe dir gesagt, ich hatte neulich so ein Gefühl …«
»Dass Lydia auf dünnem Eis läuft. Ja, aber warum?«
Er räuspert sich. »… Es ist schwer zu erklären. In einer Viertelstunde bin ich bei dir.«
Ich schaue wieder nach Merle. Sie rührt sich nicht. Ist sie wach?
»Merle?«, flüstere ich.
Keine Antwort.
Leise schließe ich die Tür.
Wie kann Lydia ihrer Tochter so etwas antun! Ich habe ihr vertraut. Und sie hat mich enttäuscht. So wie früher. So wie immer.
Jan nimmt mich in die Arme. Ich zittere vor Wut.
»Glaubst du, dass Lydia zurückkommt?«, fragt er leise.
»Wie meinst du das?«
»So wie ich es sage.«
»Sie wird bestimmt zurückkommen, wenn sie diesen Hokuspokus mit dem Heiler hinter sich hat, für den sie, oder besser Chris, wahrscheinlich ein Vermögen bezahlt. Und dann hat man sie hier längst von der Warteliste gestrichen.«
Jan lässt mich los, geht zum Fenster, schweigt.
»Kannst du mir mal sagen, worauf du hinauswillst? Vorhin am Telefon warst du auch schon so
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